Die Weltwoche, Zürich – 14. Mai 1992
Marlene Dietrich, 1992
SIE WAR NICHT EINE FRAU, SIE WAR DAS BILD DER FRAU
Der österreichische Maler und Fotograf Helnwein über seine eigenartige Freundschaft zu Marlene Dietrich.
In den letzten Jahren pflegten die Diva und der Maler regelmässigen Kontakt, Marlene Dietrich und Gottfried Helnwein. Gesehen haben sich die beiden jedoch nie. Gleichwohl wurden Helnwein und seine Frau Renate von ihr in alle Stimmungslagen und Reflexionen einbezogen - telefonisch und brieflich.
Ich lernte Marlene vor acht Jahren kennen. Maximilian Schell vermittelte den Kontakt. Ich gestaltete das Plakat für seinen Film "Marlene". Mein Porträt hatte ihr gefallen, und nach einigen Monaten erhielt ich einen Brief, in dem sie mich nach Drucken des Originals fragte. Ich habe dann eine Lithographie gemacht und bat sie, die limitierte Auflage zu signieren.
Am Anfang war sie so, wie man sie in Maximilian Schells Film erlebt hat: manchmal abweisend, unberechenbar und launisch. Plötzlich wurde sie ganz geschäftlich im Tonfall, wechselte die Sprache, redete englisch: Sie war unnahbar.
Ihr Verhalten änderte sich schlagartig, nachdem Renate und ich bei ihr in Paris gewesen waren. Wir fanden es klüger, wenn meine Frau den direkten Kontakt zu Marlene übernahm. Ich wartete vor der Wohnung, da ich jeden Eindruck von Aufdringlichkeit vermeiden wollte. Renate ging allein hinein und wurde von der Sekretärin, Mrs. Davis, durch alle Räume geführt. Die abgedunkelten Zimmer waren wie unbewohnt. Im Flur stand eine Couch, die mit einer Plastikplane überzogen war, die anderen, zum Teil kostbaren Möbel machten einen unbenutzten Eindruck. Überall Koffer und Kartons. Es sah aus, sagte Renate, als sei gerade jemand von einer Reise zurückgekommen. Alles war voll mit Erinnerungsstücken und Fotos. Berge von Briefen, unzählige Zeitungen lagen herum, mehrere Koffer und sorgfältig beschriftete Kisten stapelten sich unter dem Flügel im Wohnzimmer. Regale, die sich durchbogen, voll von Büchern, Bücher, die gelesen wurden.
Marlene aber blieb unsichtbar.
Renate musste im Wohnzimmer Platz nehmen. Plötzlich ertönte aus dem Schlafzimmer eine Trillerpfeife, und Mrs. Davis ging hinüber, um die Anweisung von Marlene entgegenzunehmen. Renate konnte zwar jedes Wort sehr deutlich verstehen, aber die Konversation wurde zunächst mittels Botin geführt. Manchmal, wenn ihr die Prozedur zu lange dauerte, beschwerte sich Marlene und pfiff wütend. Nach einer Weile wurde das Gespräch per Haustelefon geführt. Von nun an behandelte mich Marlene mit aufrichtiger Herzlichkeit. In unseren Kontakten wurde klar, dass sie ungeheuer viel las. Offensichtlich verschlang sie alle deutschen, französischen und amerikanischen Zeitschriften und Zeitungen. Sie kommentierte alles, was so passierte, und fasste wirkliches Vertrauen zu uns. "Ja, Kindchen, wie alt sind Sie denn eigentlich", frage sie, sie begann sich für alles, was uns betraft, zu interessieren. Sie war richtig gerührt, wollte Fotos haben, wollte wissen, wie wir wohnen.
Als die Garbo starb, rief sie zum Beispiel an und fragte: "Haben Sie gelesen, was die alle schreiben? Die nächste wird die Dietrich sein." Und lachte schallend. Dann fügte sie hinzu: "Sie haben aber nicht geschrieben, woran sie starb, denn das würde ja nicht zur 'Göttlichen' passen. An Urinvergiftung ist sie gestorben!"
Und als Billy Wilder in New York Teile seiner Kunstsammlung bei Christie's versteigerte und damit Millionen verdiente, war sie völlig aus dem Häuschen: "Was macht der mit soviel Geld? Hoffentlich macht er was Vernünftiges damit. Ich muss ihn anrufen, ich muss wissen, was er mit all dem Geld macht." Sie hat ihn dann tatsächlich nach langer Zeit wieder angerufen. Billy Wilder hat mir das bestätigt, sie telefonierte, "als sei in der Zwischenzeit nichts passiert". Von da an blieben die beiden in Verbindung.
Sie hatte fast keine Kontakte ausser zu Billy Wilder, Max Colpet und wenigen anderen aus alten Zeiten. Sie war einsam, ihre Würde aber hat sie nie verloren.
Das Foto
Marlene hatte viele Angebote. Sie brauchte wirklich Geld, finanziell ging es ihr nicht sehr gut. Ihre Tochter Maria Riva aber hat sie lebenslang unterstützt. Einmal erzählte sie uns, sie brauche Geld für Maria, weil deren Mann sehr krank sei. Trotzdem hat sie niemals über ihre Lage gejammert. Im Gegenteil, wenn sie über ihren materiellen Notstand sprach, war das immer sehr sympathisch: "Wissen Sie mir nicht ein kleines 'Geschäftchen'?" Wenn sie so redete, hatte sie immer Würde, Niveau und vor allem Humor. Da ich an einer Ausstellung arbeite, "Mythen des 20. Jahrhunderts", habe ich ihr originale Filmkleider abgekauft: das Kleid, das sie in "Just a Gigolo" trug, und ein Kleid, das sie in "Morocco" trug, noch in der originalen Chanel-Verpackung, von ihr beschriftet. Dann bat ich sie, für Udo Lindenbergs Album "Hermine" einen Text von Friedrich Hollaender zu sprechen. Und schliesslich machten wir eine Buch zusammen.
Sehr bald wurde klar, dass sie ein sehr inniges und tiefes Verhältnis zu Berlin hatte, obwohl sie sich dort nie aufhalten konnte. Immer wieder hat sie betont, "eine wirkliche Berlinerin" zu sein. Ich glaube, dass sie der Hass, der ihr in Deutschland nach dem Krieg entgegenschlug, insgeheim sehr getroffen hat ; obwohl sie niemals darüber sprach. Sie hat nicht verstanden, dass sie bekämpft und als Verräterin beschimpft wurde: "Das hat doch mit Politik nichts zu tun. Ich verstehe doch nichts von Politik. Aber man kann doch Menschen nicht so behandeln, wie die Nazis mit den Juden umgegangen sind!" Ihr Verhalten während es Dritten Reiches war rein impulsiv, es entsprach ihrer natürlichen Integrität. Als sie während ihrer ersten Deutschlandtournee einmal in den Orchestergraben stürzte, sagte ihr Veranstalter, dies sei eine gute Gelegenheit, die Tournee abzubrechen, ohne das Gesicht zu verlieren. Marlene aber lehnte ab und zog die Konzerte ohne Rücksicht bis zum Ende durch.
Ich habe sie nie aggressiv erlebt. Sie war zu uns immer rührend und besorgt. Sie spürte wohl, dass wir sie so akzeptierten, wie sie war. Man merkte oft, dass sie ihre Leben auf der Flucht verbrachte, in der verzweifelten Verteidigung ihres Gesichts. Die Vorhänge ihrer Wohnung waren immer zugezogen, sie wurde gejagt von Leuten, die "das Foto" von ihre wollten. Einmal tauchte eine Fotografie von ihr auf, die offensichtlich unter brutalen Umständen entstanden war. Man hatte ihre Wohnungstür eingetreten, war in ihr Zimmer eingedrungen und hatte sie fotografiert. Sie muss grauenvoll erschrocken in die Kamera geblickt haben. Die Fotografen haben das Bild dann für horrende Summen den Zeitungen angeboten. Es war jedoch so ekelhaft, dass die Redaktoren erschraken (!) und es ablehnten. Eine Illustrierte schickte das Foto dann an Marlene zurück. Gebrochen aber haben solche Erfahrungen die Dietrich nie.
Einmal bekam eine Zeitschrift eine Fotografie angeboten, auf der eine alte Frau im Rollstuhl zu sehen war. Die Redaktoren baten uns, zu überprüfen, ob es die "Echte" sei. Marlenes Reaktion war typisch, die Berliner Schnauze kam voll durch: "Finden Sie doch mal raus, wie ich da aussehe. Bin ich im Schlafzimmer, oder sitze ich im Sessel, oder bin ich nackt? Alles Quatsch!"
Der Verrat
In einer deutschen Illustrierten wurden eines Tages Fotos von ihrer Wohnung abgebildet, elende Fotos, mit irgendeiner kleinen Schmierkamera gemacht. Sie hat sich wahnsinnig darüber aufgeregt und vermutete, dass ihr ehemaliger spanischer Sekretär die Fotos heimlich geschossen habe. Die wirkliche Geschichte aber ist tragischer.
Die Journalisten eröffneten mir, dass ihre Tochter die Fotos gemacht und versichert hatte, das Geld ginge an ihre Mutter. Als in Amerika schliesslich Gerüchte auftauchten, dass Maria Riva auch an einer Enthüllungsbiographie über ihre Mutter arbeite, ging es bergab mit Marlene. Ich fand es erstaunlich, dass die Tochter am Ende nicht bei ihr war. Sie kam erst zwei Tage nach ihrem Tod nach Paris. Die Biographie erscheint pünktlich zum Begräbnis.
Ihr radikaler Rückzug aus der Öffentlichkeit, Mitte der siebziger Jahre, war in unseren Gesprächen nie ein Thema. Ich weiss nicht, warum sich diese Frage so oft stellt, denn die Antwort erscheint mir klar. Ein Grossteil ihrer künstlerischen Leistung, ihres Mythos, ihres Lebenswerkes war ihr Gesicht. Dieses Gesicht war ihre Aussage, ihr Kapital. Auf Fotos kann man sehen, dass sie immer auf der Bühne stand, immer, also auch, wenn sie mit Remarque, Hemingway und all den anderen Freunden zusammen war. Wenn sie auftrat, war es Kunst. In jeder Situation hat sie sich sorgfältig und vollendet inszeniert. Und irgendwann wusste sie: Jetzt fällt der Vorhang.
Marlenes Eros war unirdisch. Niemals liess sich definieren, was faszinierend an ihr war. James Dean war ein ähnlicher Unsterblichkeitsmythos. Kein Mensch weiss, warum man sich an diesen kleinen Schauspieler erinnert, der drei Filmchen gedreht hat. Warum ist gerade er, im Gegensatz zu möglicherweise viel besseren Schauspielern, Ikone geworden?
Man kann Marlene mit keinem lebenden Menschen vergleichen. Denke ich an Madonna, fallen mir gnadenloses Training, Muskeln, Schweiss ein. Ich sehe eine kleine Italienerin, die sich unbarmherzig in ihre Karriere verbeisst und alles niederwalzt. Was ist die hervorstechendste Eigenschaft von Madonna? Fleiss. Den Mythos Madonna wird es nicht geben.
Für viel Schwule ist Marlene eine Göttin. Es gibt kein Rollenklischee, in das sie passen würde. Sie hatte immer etwas Maskulines, Bestimmtes und Direktes. Und sie hat ihr Leben einzelkämpferisch geführt. Wie auch James Dean stand Marlene irgendwo zwischen den Geschlechtern.
Sie war nicht eine Frau, sie war das Bild der Frau.
Das Ende
Ein Kapital, das alle mythischen Figuren des zwanzigsten Jahrhunderts besassen, wurde mir während der Kontakte mit Marlene bewusst: hemmungslose Kindlichkeit. Wenn man mit ihr redete, war da ein Trotz, als wäre sie nie "erwachsen" geworden. Als hätte sie Verletzungen, Enttäuschungen und Verbote nie akzeptiert. Sie war kauzig und schrullig, wie es nur Kinder sein können. Wenn man die verschiedenen Fassungen für Udo Lindenbergs "Hermine"-Text hört, wird das besonders deutlich: als würde ein Kind irgend etwas dahinplappern; plötzlich fängt sie an zu kichern, völlig unbefangen und schamlos probiert sie ihren Text aus. Keinesfalls eine Frau, die die normale Professionalität einer Schauspielerin hinter sich hat. Diese "Frechheit" habe ich bei noch keinem Erwachsenen beobachtet.
Ihre öffentliche Rolle hat sie nie reflektiert. Das spürte ich auch bei den Anrufen: Da war eine normale, freche Berliner Göre. Wenn ich anrief, meldete sie sich zunächst französisch und sagte dann: "Frau Dietrich ist nicht hier."
Das war nur Spielerei. In den letzten Jahren konnte sich Marlene Dietrich keine Sekretärin mehr leisten. Sie sagte entweder, Mrs. Davis sei verreist oder auf Urlauf, deshalb müsse sie ihre Briefe selber schreiben - aber schliesslich hat sie alle Briefe selbst geschrieben. Auch alle Päckchen, die sie uns geschickt hatte, waren von ihr selbst beschriftet worden, mit einer grossen, ungenierten Kinderhandschrift.
Das letzte Gespräch haben wir vierzehn Tage vor ihrem Tod geführt. Es muss ihr sehr schlecht gegangen sein, denn sie konnte kaum noch artikulieren. Marlene hob selber ab, sie klang, als habe sie einen leichten Schlaganfall hinter sich. Ich erzählte ihr, dass ich das Plakat zu Peter Zadeks Inszenierung des "Blauen Engel" in Berlin entwerfe. Erst verstand sie nicht, aber plötzlich platzte sie heraus: "Ach 'Der Blaue Engel', das kenn' ich doch alles, das kenn' ich doch alles!"
14.May.1992 Die Weltwoche Gottfried Helnwein