DER TAGESSPIEGEL – 20. Dezember 1986
Diskussionsrunde in der Volksbühne, Berlin, 1986
VOM MUTTER- ZUM VATERRECHT
Diskussion in der Volksbühne über "Gewalt, Antike, Sexualität."
Podiumsdiskussion mit Hans Neuenfels, Heiner Müller,Ernest Bornemann und Gottfried Helnwein.
...Zu vorgerückter Stunde gab es dann noch einen kleinen Höhepunkt, als Helnwein von der "Magie der Bilder " sprach und erstaunliche Reaktionen auf seine Hitler-Gemälde schilderte.
Plötzlich entstand so etwas wie Nähe zwischen ihm und dem Publikum.
"Ein verschossener Abend", kommentierte Hans Neuenfels unmutig die erste Diskussionsstunde, und wenigstens darin waren sich alle Beteiligten einig. Alle -- das waren, außer Neuenfels, eine riesige, vorwiegen junge Publikumsschar, die aus Platzmangel zum Teil auf der Bühne lagerte, und die Gäste, der Sexualwissenschaftler und Historiker Ernest Borneman, der Dichter Heiner Müller und der Maler Gottfried Helnwein. "Gewalt - Antike - Sexualität" lautet das Thema, das auf so übergroßes Interesse gestoßen war, doch der Verlauf der Veranstaltung enttäuschte dann nur.
Das mag daran gelegen haben, daß jeder mit anderen Erwartungen gekommen war. Neuenfels jedenfalls ließ durchblicken, daß er insgeheim wohl von diesem jungen Publikum endlich positive Reaktionen auf seine Doppelpremiere mit "Elektra" und "Gerettet" erwartet hatte, die ihm die "alten" Kritiker ("Die sind wohl alle über 70") weitgehend versagt hatten. Zustimmung erhielt er an diesem Abend aber auch nicht, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: die meisten hatten noch keine der beiden Inszenierungen gesehen.
Gottfried Helnwein, dessen Werke, wild gemalte, aud Fotos basierende Bilder zum Thema Gewalt, zur Zeit im Foyer der Volksbühne zu besichtigen sind, wollte am liebsten in Ruhe gelassen werden - "ein Maler spricht durch seine Bilder" - und hatte dann später doch noch sehr viel zu sagen.
Der als Diskutant ursprünglich gar nicht vorgesehene Heiner Müller, sonst ein anregender Gesprächspartner, der schon mancher müden Diskussion durch erfrischende Bemerkungen aufgeholfen hatte, schien diesmal von allen guten Geistern verlassen. Er machte sich mit läppischen Beiträgen - "Warum rauche ich?" - forwährend wichtig, unterbrach zaghafte Gesprächsansätze und provozierte schließlich den Unwillen des Publikums so sehr, daß er nicht mehr reden durfte. Die Gewalt eines Publikums - sie sollte noch öfter an diesem Abend zu spüren sein.
Professor Borneman hatte sich als einziger brav vorbereitet und trug ein kurzes Referat über die sozio-kulturellen Hintergründe der großen griechischen Tragödien von Aischylos bus Euripedes vor. Er sprach sehr aufschlußreich über den Wandel vom Mutter- zum Vaterrecht in dieser Zeit, der damals aber nicht vollständig vollzogen wurde. Deshalb mußte die den Vatermord an der Mutter rächende Elektra den Athenern als ein Ungeheuer erscheinen, denn nach altem Recht schuldete sie der Mutter größte Loyalität. Anderseits ist sie, genau wie Orest, nach dem neuen Vaterrecht, das Apoll mit seinem Mordbefehl vertritt, unschuldig. Diese Ausführungen und Bornemans wirklich erstaunliche Bemerkung, Neuenfels habe nicht psychologisierend interpretiert, blieben aus obengenannten Gründen für die Diskussion leider folgenlos.
Neuenfels wollte dann wohl lieber über die Gewalt der Kritiker reden, die "mit Schreckensschaum vor dem Mund auf ihre ungeratenen Kinder blicken", ließ sich dann aber doch zu einigen Erklärungen seiner Inszenierungen herbei. Euripides, "ein Atheist wie ich", baue den Göttern keine Tempel mehr. Die Götter repräsentierten die Gesellscshaft, die den Mord erzwingt, die deshalb auf Rache fixierte Elektra komme nicht mehr zu sich selbst.
Der in seiner Inszenierung deutlich homoerotische Orest sei typisch griechisch. Bornemann stellt richtig: nur in der Jugend durfte der Grieche schwul sein, blieb er es Zeit seibnes Lebens, musste er mit Spott und Verachtung rechnen. Von da an schwieg der Herr Professor mit deutlichem Grimm im Gesicht, denn die Veranstaltung wurde immer chaotischer.
Jeder wollte etwas anderes wissen, kaum einer liess den anderen ausreden, Fragen blieben unbeantwortet, und wer Auskünfte über Inszenierungsdetails bekommen wollte, wurde als "Kunstarsch bezeichnet. Wärenddessen schlug ein Schelm auf der Bühne Kobolz.
Zu vorgerückter Stunde gab es dann noch einen kleinen Höhepunkt, als Helnwein von der "Magie der Bilder" sprach und erstaunliche Reaktionen auf seine Hitler-Gemälde schilderte. Pl,oe,tzlich entstand so etwas wie Nähe zwischen ihm und dem Publikum, doch das konnte dieser Augenblick an der negativen Bilanz des Abends nicht mehr ändern.
Gottfried Helnwein, Diskussionsrunde in der Volksbühne, Berlin
20.Dec.1986 DER TAGESSPIEGEL Carla Rhode