Die Tageszeitung, Berlin – 21. Dezember 1982
Die Tageszeitung, Berlin, 1982
GESICHTE UND GESICHTER
Um es gleich vorwegzunehmen: der Besuch der Ausstellung ist anzuraten. Zu sehen sind einige Originale, Plakate, Redproduktionen von Titelseiten, graphische Arbeiten. Jedoch werden nicht die Werke ausgestellt, vielmehr wird die Produktion Helnweins dokumentiert. Diesen Ansatz finde ich richtig. Wiewohl die Aquarelle und Gouachen Helnweins den Ansprüchen der Vollendung eines Kunstwerks ironisch gerecht werden, verachten sie offensichtlich die Aura des Kunstwerks.
Der Wiener Maler schafft keine Werke, sondern Warenmuster des weltweiten Einmann-Betriebes: "Helnwein.Images". In der Ausstellung spürt man mit Erschrecken, daß man die Helnwein-Gesichter längst schon im Kopfe hat. Sie sind Teil des emblematischen Bilderarsenals im kollektiven Bewußtsein. Der Mick Jagger von der "stern"-Titelseite, die vergewaltigte Frau mit den süßlich-präzis ausgearbeiteten Details ihrer zerrissenen Kleider im SPIEGEL-Titel, der bandagierte Kopf mit den Operationsklammern an den Augen vom Plattencover - diese Bilder konkurrieren mit dem Mund von Marilyn Monroe, den Hüften von John Wayne und den Augen von Humphrey Bogart: Wenn Helnwein sagt, daß er auf allen Titelseiten der Welt sein will, dann ist das nur insofern provokativ als die malerische Avantgarde - auch wenn sie sich zu jeder Rücksichtslosigkeit bereit erklärt - an der Helligkeit des Kunstwerkes nie zu rütteln gedenkt. Selbst erfolgreiche Geschäftsleute in Sachen Provokation wie Beuys oder die routiniert Unberechenbaren, die "neuen Wilden" gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß erst das Schaffen kommt und dann die Verwertung, daß der wahre Ort der Kunst das Museum ist und dann erst das Bewußtsein der Leute.
Helnwein provoziert für die Verwertung, für die Medien und die Museen können sehen, wo sie bleiben. Als eines seiner Vorbilder nennt er Rockwell, den biederen Perfektionisten des american way of life, der über Jahrzehnte auf den Titelseiten der SATURDAY EVENING POST erschien. Das mag provokativ sein; es ist aber - trotz Helnweins Koketterie mit diesem Sachverhalt - ganz einfach auch die Realität. Wenn man an die gähnende Sterilität der ZEITGEIST-Ausstellung denkt, dann ergibt sich zunächst dies: der Medienbetrieb Helnwein reibt sich um vieles lebendiger an der Wirklichkeit als die ganze Lebendigkeit der "neuen Wilden". "Schock" und "Hyperrealismus": das sind im wesentlichen Formeln, die die Kunstkritik Helnwein seit geraumer Zeit nachwirft. "Schockmaler" wird er genannt, ohne daß darüber nachgedacht wird, daß es doch eigentlich ein Widerspruch ist, daß jemand des Schocks habhaft zu werden versucht, der mit altmeisterlicher Versessenheit seine Bilder vollendet. "Narbenrembrandt", auch das ist eine Vokabel, gegen die man ihn um willen eines Bildes dennoch in Schutz nehmen muß. Es ist das Porträt von Niki Lauda, in dem er die weltbekannten Narben nicht malt. Überhaupt haben alle seine Arbeiten einen leisen Zug verletzbarer Menschlichkeit, die umso mehr rührt, weil sie eben mit soviel kunstfertigem Fleiß ausgetrieben werden soll.
Dem Primarius der Psychiatrie, Dr. Gross, der erklärt hatte, daß er im Faschismus keine Kinder vergast habe (sie seien nur eingeschläfert worden), widmet er das Bild eines kleinen Mädchens, das tot in seinem Essen liegt. Schocktechnik? Ach, das Wort Schock ist heutzutage nur eine Vokabel für Nicht-Nachdenken. Schock ist eine Blanko-Scheck für die Künstler, schocken dürfen sie allemal. Lassen wir das Wort also weg.
Was also ist das Beunruhigende an dem Bild des toten Mädchens? Es ist die Kunst Helnweins selbst. Seine sensibler Pinsel folgt dem Schimmer Haut, dem weichen Fall der Haare. Die anrührende Liebe zum körperlichen Detail macht, daß man es nicht anschauen kann. Es ist die verbissene Klage der Schönheit eines weichen Handgelenkes gegen den zerstörten Körper. Der lebendige Körper ist ganz und gar vergangen, umso mehr, als seine Teile, das feuchte Zahnfleisch, der Scheißglanz auf der Nase und der Schimmer in den Augen noch lebendig sind.
Aber: das Thema Helnweins sind die Gesichter. Die Gesichter sind seine Gesichte. Übernahe Alpträume alltäglicher Belästigungen, Schmerzen, Verzweiflungen. Die Gesichter sind seien Obsessionen. Um nichts anderes handelt es sich. Wer sich produktiv dem menschlichen Gesicht zuwendet, muß sich selbst sehen können. Und da stimmt es nicht. Nicht zufällig ist in den vielen Fotoporträts von Helnwein selbst seine eigenes Gesicht fast ständig verdeckt, durch eine Hand, durch Bandagen, durch den Fotoapparat. Wer sagt, daß die Menschen heutzutage unter Beziehungslosigkeit leiden, trifft den Tatbestand keineswegs. Vielmehr: Sie haben keine Beziehung und sind sich dennoch zu nahe. Die alptraumhafte Nähe der Menschen, die sich nicht nahe kommen können, bekämpft Helnwein in altmeisterlichen Bildern. Die Gesichter, die ihn behelligen, verfolgt er weltweit, erfolgreich, gut honoriert. Helnwein ist der geschäftstüchtigste Einsiedler der weltweiten Bilderindustrie.
21.Dec.1982 Die Tageszeitung, Berlin Klaus Hartung