Helnwein Katalog, Albertina museum, Wien – 1. Januar 1985
One-man show, Albertina Museum, Vienna, 1985
GOTTFRIED HELNWEIN, DER KÜNSTLER ALS AGRESSOR UND VERMALEDEITER MORALIST
Neben Skizzen von Ballet tanzenden Hasen und gestiefelten Katzen, strangulierten und gestopften Enten finden sich Studien oder eher Wunschzeichnungen zu malträtierten Kinderköpfen, deren Münder durch Spangen und rosige Narben grauenhaft entstellt sind, aber gleichzeitig durch ihre höhnischen, Fratzen schneidenden Grimassen Ungehorsam, Widerstand, Aufruhr, so etwas wie kindliche Autonomie in der depravierten Erwachsenenwelt signalisieren. Das Feixen des malträtierten Kindes, ein groteskes Vexierbild, in das Märtyrertum und Subversion der Menschenkreatur gleichermaßen eingeflossen sind, ist ganz allein Helnweins Erfindung. Sie offenbart sich in den vielen Metamorphosen des Phantasmas vom versehrten Körper als obsessives Grundmuster seiner Bildwelt und aktionistischen Darstellungen, als Metapher einer im Innersten des Menschen vorhandenen Unverletzlichkeit und Unbesiegbarkeit.
Lieber den Tod als nicht mehr zu leben!
Nicht feige fleh' ich um meine Errettung;
doch hängen in blutig gespürter Verkettung
an meiner Gestalt die vielen Gestalten,
die du zu bewahren mir vorbehalten,
und in dem schmerzbeseligten Bund
unzählige Stimmen an meinem Mund.
Sie nachzuschaffen hast du mich gelehrt,
die von dir sich zum eigenen Abbild verkehrt.
Karl Kraus
I.
"Nicht an das Gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue."1) Diese "Brechtsche Maxime" (Walter Benjamin) hat auch das Werk Gottfried Helnweins seit den frühen siebziger Jahren bestimmt. Sie kleidet sich bei ihm in die Formel, Kunst müsse wie Rockmusik sein und in das scheinbar banausische Bekenntnis, mehr von Walt Disney als von Leonardo da Vinci gelernt zu haben. Die weltanschaulichen Motive dieses Künstlers, der heute immer noch die in E- und U- Kunst geteilte "Doppeldeckerkultur" (Herbert Read) durch eine exemplarische Kunst der Kommunikation zu überwinden hofft, sind zunächst in der Rezeption Brechtscher und Benjaminischer Theoreme in den sechziger Jahren zu suchen 2), als man sich eine Demokratisierung und Vergesell-schaftung künstlerischen Sachverstandes, eine Annäherung von Kunst und Alltag erhoffte 3).
Die damalige Umorientierung auf eine verständliche anstatt esoterische Darstellung der Wirklichkeit praktizierte der Maler und Aktionist Helnwein durch einen Rückgriff auf die Ästhetik des Alltagslebens, des Trivialen und Banalen, mit Hilfe einer "proletaroiden" Reproduktionstechnik und einer naturalistischen Darstellungsmethode, die die kunstästhetischen Verklausulierungen der Wahrnehmung auf ein Minimum herunterschraubt.
Im großen und ganzen ist sich Helnwein treu und von exklusiven Stilmoden der Avantgarde unbeeinflusst geblieben. Er hat trotz seiner suggestiven Popularität nichts von einem Kunstpriester. Anstatt die Alltäglichkeit illusionistisch zu läutern oder sie von oben herab zu schulmeistern wie ein Karikaturist, erhellt er ihre Widersprüche. Er beherrscht die Kunst der unterhaltenden Übertreibung und erreicht ein Höchstmaß an Betroffenheit und Verunsicherung. Wie einst Andy Warhol, den er in seine Galerie zeitgenössischer Idole aufzunehmen beabsichtigt, hat er ein ausgefallenes Gefühl dafür, wie durch subtiles Hypertrophieren der kursierenden trivialen Mythen uns Gefühlsklischees Leitbilder und Verhaltensnormen unterlaufen und suspekt gemacht werden können. Kritik im Gewande des sublimen Schreckens, in der kaum merklichen, untertreibenden Abweichung vom Gewohnten anbringen zu können, ist so sehr seine Spezialität geworden, dass die mittlerweile zahlreichen internationalen Zeitschriften-Redaktionen, die bei Helnwein einen Bildaufreißer für ein kontroverses Thema in Auftrag geben, sich fragen müssen, wo ist der Haken, wo ist der Hintergedanke des Künstlers dabei.
Nicht alles passiert die Scham- und Peinlichkeitsschwelle, mit der der Titelbildmaler ständig operiert. Manches bleibt unveröffentlicht, verfällt der Zensur der Redakteure, die sich in einer Zwickmühle zwischen intellektueller Sympathie für das Riskante und der Anwaltschaft für die repressive öffentliche Moral befinden.
Bereits das Aufsehen erregende Cover zum Thema "Selbstmord in Österreich" für die Zeitschrift "profil" (1973), womit Helnweins Laufbahn als Reproduktionskünstler großen Stils begann, zeigt die Barrieren auf, an die die Kunst stößt, wenn sie eine massenwirksame, fortschrittliche Technik ihrer Verbreitung anstrebt. Das anachronistisch von Hand gemalte und verbreitete Tafelbild darf sich ungleich größerer Freiheiten und Tabuverletzungen herausnehmen, dafür steht es nicht an derart exponierter Stelle und muss sich mit einer Wirkung innerhalb des Kunstgettos zufrieden geben. Helnwein verurteilt Hermetik und Sektiererei in der Kunst. Er will nichts wissen von ihren Einsatzreligionen, noch kann er sich mit den großspurigen Gesten der Verweigerung und romantischen Abstraktionen in der Gegenwartskunst abfinden, die die Strukturmerkmale der "autonomen Kunst" des Bürgertums und seines elitären Bildungsanspruches verraten.
Sein Adressat sind die Massen. "Die Masse ist eine Matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen. Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht.
Es darf den Betrachter nicht irre machen, dass dieser Anteil zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt", hatte Benjamin in seinem maßgeblichen Essay über das "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" verkündet 4).
Benjamin hat bekanntlich die "auratische", auf Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit angelegte, noch kultisch bestimmte Kunstproduktion gegenüber der allgemeinen industriellen Entwicklung der Kultur als die periphere, anschronistische herausgestellt. "Es liegt eben so, dass die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simulanten Kollektivrezeption darzubieten, ....wie es heute für den Film zutrifft." 5) Sie war in den mittelalterlichen Klöstern und Kirchen, an den Fürstenhöfen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts "nicht simultan, sondern vielfach gestuft und hierarchisch vermittelt" 6), während heute durch die technische Reproduzierbarkeit und Multiplizierbarkeit des Bildes die demokratische simultane Kollektivrezeption das Gebot der Stunde ist und die Malerei vor die Frage stellt: Soll sie weiterhin formal und inhaltlich an ihrer Esoterik festhalten, ihren Anspruch auf das Auratische verteidigen? Oder soll sie sich vermittels massenwirksamer Technik zu einem Kommunikationsmittel für möglichst viele Betrachter- mit allen Gefahren der Anpassung an den ästhetischen Analphabetismus der Massen - verwandeln?
Helnwein hat ohne Zögern die zweite Möglichkeit ergriffen und auf der Linie der nachauratischen Kunst, der verbreiteten ästhetischen Praxis der sechziger Jahre, die Massen zu "präexistenten Künstlern" ( Georg Simmel) aufgewertet, die die vom Kunstwerk vermittelte Erfahrung als ganz die ihre aneignen und "interpretieren" können.
Die Grundbedingungen für eine massenspezifische Aneignung und Interpretation ist die Art, wie künstlerische Erfahrung technisch und industriell verbreitet wird. Die in hohen Auflagen im Offset- und Tiefdruck vorgenommene Reproduktion wird für Helnwein wichtiger als das ihr zugrunde liegende gemalte Unikat, das als "Edelabfall" des künstlerischen Herstellungsprozesses gegebenenfalls in ein Museum seinen traditionellen Platz findet.
Um seinen Bildinhalten den größten Nenner an Verständlichkeit zu geben, wählt der Künstler eine Komposition, die den Betrachtern erlaubt oder sie vielmehr animiert, sich von der Welt ein Bild, ihr - wie auch immer manipuliertes, klischeehaftes - Bild zu machen. Der Reproduktionskünstler versteht sich nicht primär als Manipulant der Massen.
Er liefert eigentlich nur den phantasiemäßigen Rahmen für die Interpretationen und Assoziationen der Betrachter. "Das Bild ist ...erst fertig, wenn es betrachtet wird... Ein Kunstwerk ist so gut oder schlecht wie die Reaktion darauf", versichert Helnwein 7). Und er ist ein Meister nicht nur im Provozieren von Reaktionen, sondern im Ambivalentmachen und Offenhalten des Bildes für ein möglichst breites, häufig sich widersprechendes demokratisches Deutungsspektrum. Er gibt ungern rationale Bildlegenden, eindeutige Erklärungen zu seinen Bildern, die ihre Rezeption einseitig festlegen. Derlei "Kunstprothesen" und "Reiserouten für Kopf und Herz" greifen meist dem Betrachter vor und bestärken ihn in seiner passiven Konsumhaltung. Diese Zurückhaltung erklärt auch Henlweins Vorliebe für die ausgesucht absurden, vagen Bildtitel seiner Federzeichnungen und mancher Aquarelle der letzten Jahre.
Das Ziel des Kunstwerks könne nur das "eigene Ich" des Betrachters, die Selbsterfahrung sein. "Die Geschichte des Betrachters, ich meine das erste spontane Begreifen, ist wichtiger als meine ,Aussage"'. 8) Trotz verschiedener politischer "antipsychiatrischer" Stellungnahmen und Unterstützungen von Bürgerinitiativen wie im Falle der Proteste gegen das Wettrüsten ("Gleichgewicht des Schreckens", 1982), der Aktionen gegen den Bau der UNO-City oder für die Erhaltung der Donauauen bei Hainburg, vermeidet Helnwein, seine Bildwerke sozialkritisch zu befrachten, sie für kleine Zielgruppen zu spezialisieren und den Betrachter ideologisch zu indoktrinieren.
Im Vertrauen auf die Reaktionsfähigkeit, die beanspruchte Mündigkeit und kommunikative Kompetenz der Massen beschränkt sich dieser Verist ohne Parteilichkeit und Tendenz auf die Anreger- und Auslöserfunktion seiner Bildkompositionen.
Diese Einstellung war vor fünfzehn Jahren vielleicht noch mit größeren gesellschaftspolitischen Hoffnungen auf einen spontanen Selbstlern- und Veränderungsprozess der Massen, auf ein Durchbrechen der Schranke zwischen der Elite der Kunstkenner und der Masse der Nichtkenner verknüpft als heute.
Noch 1976 äußert Helnwein in fast Brecht-Benjaminischer Redeweise, der "Konsument ist nicht mehr jemand, der nur hinschauen darf, er soll auch aktiv werden können und vielleicht schaffen viele den Sprung vom Konsumenten zum Produzenten"9).
Ein Bruch mit dieser Auffassung zeigt sich überall dort, wo Helnwein neben seiner massenwirksamen Reproduktionskunst für die Covers der Weltpresse, die Plakatwände der Straße und Posters der Jugendkultur, auch eine kleinmeisterliche, intime Kunst der skurril-phantastischen Zeichnung pflegt, sich zur Illustration von Märchen und Psychogrammen des eigenen Unbewussten bereit findet, wo die gerade verurteilte Isolation und Hermetik, das Surreale, Visionäre und Wunderbare, der Anschluss an die Insider-Kunst und ein anspruchsvoller Personalstil in der Nachfolge Goyas, Redons und Kubins Eingang gefunden haben.
Diese, Mitte der siebziger Jahre sich deutlich abzeichnende ( erstmals in der Galerie Brandstätter 1975 ausgestellte) Entwicklung gipfelt in den (1979 in der Albertina gezeigten) subtilen expressiven Federzeichnungen zu Edgar Allan Poes "Unheimlichen Geschichten", die Helnwein (nicht zuletzt auf Grund einer seelischen Wahlverwandtschaft mit diesem Künstler) bestärken, den ihn motivierenden Dualismus von Eros und Aggression auch einmal aus der Sicht des Träumers und Paranoikers zu geben. Die neuen großformatigen Aquarelle "Verfluchtes Gold" (1984), "Der oberflächliche Philosoph (1983), "Die Katastrophe" (1983) bedienen sich anderer formaler Mittel als der Naturalismus der bisherigen Psychogrotesken: "Guten Morgen, Du Sau" (1977), "Erdbeben" (1977), "Der höhnische Arzt" (1973), "Die Tochter des Schlurfs" (1974).
II.
Im Rückblick von 1985 findet man Helnwein auf mehreren, stilmäßig differierenden Ebenen, außerdem noch als Aktionisten arbeiten, wofür ein gemeinsamer Bezugspunkt nur in der psychologischen Persönlichkeit des Künstlers gefunden werden kann. Der Realist und der Sachlichkeitsfanatiker in Helnwein wird häufig missverstanden mit dem Fotorealismus der Amerikaner in Verbindung gebracht, die wie Malcolm Morley und Richard Estes um 1966, nach dem Ausklingen der Pop Art, ihre ersten fotographischen Gemälde schufen.
In der Tat hat auch Helnwein den Skizzenblock mit der Kamera vertauscht, die traditionelle Komposition durch die Selektion der fotografischen Bildunterlagen, die für ein einziges Bild in die Hunderte gehen könne, ersetzt, und er entnimmt gleichfalls seine Motive der Populärkultur der Massen. Dies ist aber auch schon alles an Gemeinsamkeit. Keiner der amerikanischen Fotorealisten greift zu dem Mittel der grotesken Verfremdung, die bei Helnwein ein wesentlicher Störfaktor der naturalistischen Darstellung ist, mal drastisch und überproportioniert, mal in zarter Andeutung und kaum merklich, geradezu sparsam, wie in den heiklen Portraits Prominenter, eingesetzt wird. Die naturalistische Ähnlichkeit mit dem Modell erweist sich bei näheren Hinsehen als eine raffinierte Illusion, zumindest ist es Absicht des Künstlers, "Klischees zu brechen, etwas leicht zu verschieben und zu verrücken, damit Unsicherheit entsteht, nicht zuletzt bei den Portraitierten selbst" (Helnwein im Gespräch).
Die wie Hagiographien, wie Helden- und Heiligenbilder gemalten Idole Mick Jagger, Peter Alexander, Udo Jürgens, Hans Krankl, Joseph Beuys, letzterer "überwältigt vom eigenen Charisma" (Helnwein), befinden sich auf dem schmalen Grat zwischen Portrait und Karikatur. Hier geht es um Nuancen, die ein eingeübtes Gesicht als Rollengrimasse und Charaktermaske entlarven und bei den Betroffenen auf Misstrauen und Ablehnung stoßen. Bei Niki Lauda, dem versengten und entstellten Kämpfergesicht, hält sich ein Wunden- und Narbenmaler wie Helnwein paradoxerweise zurück, wie man meinen könnte. Doch gehört hier die Verletzung wie andernorts das ubiquitäre Lächeln schon so sehr zum Image des Portraitierten, zu seinem Klischee in den Massenmedien, dass der Künstler berechtigter Weise darauf verzichten zu können glaubt.
Ein Image ist ein Selbstbild "sozial anerkannter Eigenschaften", das "die anderen übernehmen können" 10). Jedes Kommunizieren und Interagieren beruht ähnlich wie im Theater auf Rollen- und Maskenspiel (Robert Parc). Die Grundlage der Kommunikation ist durchweg konservativ und das soziale Image, das wir von uns entwerfen, ist weniger Ausdruck unserer persönlichen Freiheit als vielmehr "nur eine Anleihe von der Gesellschaft" 11). Wie peinlich ist es doch, sein "Gesicht zu verlieren": "ein falsches oder gar kein Image zu haben oder beschämt zu sein" 12). Genau hier beißt sich der Portraitist Helnwein fest. Er geht, dies ist zumindest sein Anspruch, hinter das Image und Klischee seiner prominenten Modelle zurück, will den Fassaden- und Maskencharakter der Gesichter freilegen, ohne in die gesellschaftlich tolerierte Übertreibung der Karikatur, eine moralische Entwaffnung, an die heute niemand mehr recht glaubt, zurückzufallen. Die in den Massenmedien unaufhörlich reproduzierten Idole des Sports, der Unterhaltung und Politik verraten, und hierfür möchte uns Helnwein offensichtlich sensibilisieren, wie sehr die "Vorstellung unserer Rolle zu unserer zweiten Natur und zu einem integralen Teil unserer Persönlichkeit" 13) geworden ist.
III.
Nicht zufällig haben die Comics für Helnwein eine so große Bedeutung erlangt, sind sie doch zu einer Institution des Alltagslebens und zu einem "Element der sozialen Beziehungen" geworden: "!In ihnen kommunizieren indirekt und vielfach gebrochen die Massen miteinander über ihre geheimen Wünsche, Ängste und Interessen" 14). Auf einem frühen montierten Portraitfoto des Künstlers von 1971 sieht man ihn in typischer Märtyrerhaltung mit verbundenen Händen und Pflastern im Gesicht, während Uncle Scrooge (Onkel Dagobert Duck), die vor allem durch den von Helnwein studierten Zeichner Carl Barks weltberühmt gewordene Ente aus Disneys Donald Duck Strips, als ernst zu nehmende Muse auf dem Arm des Künstlers Platz genommen hat 15).
Eine Malerei, die ihr Existenzrecht erst durch die Rezeption der Massen, als gegeben und gerechtfertigt ansieht, müssen Volkstümlichkeit, Konkretheit, die leichte Verständlichkeit und der Unterhaltungswert eines Kommunikationsmediums wie den Comic strips zum Vorbild werden. Helnwein steht mit dieser Auffassung nicht allein. Die Pop Art eines Jess Collins, Mel Ramos, Roy Lichtenstein, Öyvind Fahlström oder Peter Saul haben seit den fünfziger Jahren den "Klischeerealismus", die Alltagsmythologie und Umgangssprache der Massen als unverbrauchtes neues Stoffgebiet ebenso aufgegriffen 16) wie beispielsweise die deutsche Pop-Literatur von H. C. Artmann (" Das suchen nach dem gestrigen tag oder Schnee auf einem heißen Brotwecken", 1964), Ernst Janl (mit seinen Sprechblasen-Gedichten), Rolf Dieter Brinkmann und P. G. Hübsch 17).
Freilich wird man bei Helnwein eine direkte Übernahmen des Komponierens in Bildstreifen und der narrativen Figuration in der Manier der Pop Art oder der "figuration narrative" in Frankreich 18) vergeblich suchen. Auch das buchstäbliche Zitat eines Comic-Heftchens in "Peinlich" /1971), wo es als Attribut der Kindlichkeit erscheint, ist eine Ausnahme. Helnwein komponiert nicht in narrativen "filmischen" Streifen, sondern in "kontemplativen" Einzelbildern und statischen Einstellungen. Er bedient sich des ästhetischen Instrumentariums des Comics-Mediums, um dem Einzelbild jene, vor allem auch unbewusste Triebstrebungen ansprechende suggestive, aggressive Affektperspektive zu verleihen, die als besondere massenspezifische Leistung der Comic strips angesehen wird.
Das Einzelbild soll zu einer fast magischen, ästhetisch "undifferenzierten Konfrontation mit dem Betrachter führen und sich dafür jener direkten (aber sozial stereotypen, wesentliche Teile der gesellschaftlichen Existenz auslassenden) Signal- und Reizwirkung bedienen, die wir beim Zeitschriften - Cover nicht beanstanden und in der Werbung und Warenästhetik schon für selbstverständlich halten.
Die eigentliche Provokation und der kulturelle Skandal liegen darin, dass ein Künstler wie in den Comics ein Rezeptions- und Wahrnehmungsmuster anstrebt, das einer "primitiven", frühkindlichen, den Körper ganzheitlich einbeziehenden Stufe der Wirklichkeitsaneignung angehört. Auf das orale und analsadistische Triebmaterial der Comics ist immer wieder hingewiesen worden 19), doch sind die Grenzen zur gleichzeitigen manieristischen Kunst, entgegen einer konservativen Erwartungshaltung, äußerst fließend. Hier wie dort findet man orale Allmachtswünsche und Phantasmen vom zerstückelten Körper. Nicht nur in den Comics" schwingen, schweben und fliegen" Körper oder sie "werden zerstrahlt, zermalmt, lösen sich in Partikelwolken auf" 20), weshalb Helnwein mit Recht eine polemische Abgrenzung von E- und U- Kunst, einer "hohen" und einer "leichten", zweitklassigen Kunst ablehnt. Er setzt sich in seiner künstlerischen Arbeit über diesen Unterschied hinweg.
Schon rein formal ist einiges von den Comics Zeichnern zu lernen. Als Maler intensiver psychischer Kräfte, die über Lichterscheinungen, Strahlen, Explosionen und andere Energien wahrnehmbar sind ("Licht ins Gesicht", "Das Lichtkind", "Johannesfeuer", "Paranormale Lichter vor der Einweisung und Behandlung", "Der Herzensstrahl des Schlurfs", "Ein Magier inhaliert (inhalier Magier)", "Stress", "Die Katastrophe"), kann er sich auf "Entmaterialisierung, Substanzmutation oder plötzlichen Strukturwandel" gegenständlicher Formen 21) in den Science fiction strips stützen, wo sich beispielsweise Figuren in Punkte, Schraffuren, abstrakte Lineamente, informelle Flecke und Schemen auflösen.
Helnweins Bildinhalte schließen eng an den trivialen Mythus von Donald Duck und seiner Sippschaft an, der ins Groteske sublimiert und als Archtyp des scheiternden, lädierten negativen Helden erscheint. Donald Duck fungiert bei Disney als "Abbild und Identifikationsgestalt" für jedermann. "Wer über Donald lacht, wer ihn bemitleidet, der sich zu ihm hingezogen fühlt, meint immer nur sich selbst - den fall guy." 22) Helnwein greift mitunter auf diese triviale Identifikationsfigur zurück, versieht sie aber gleichzeitig mit allen Merkmalen, die aus diesem, an sich harmlosen, an der Tücke des Objekts stets scheiternden "sympathischen Pechvogel" (Wermke) eine peinliche, die Scham des durchschnittlichen Comics-Konsumenten verletzende Figur machen.
Die Selbstzensur und Verdrängung des Sexuellen, die die Comics sich gegenüber ihren meist jugendlichen Lesermassen a priori auferlegen müssen, werden von Helnwein weitgehend ignoriert. In "Verfluchtes Gold", einem Schlüsselbild von 1984, erscheint ein groteskes Mischwesen mit Schnabelkopf und Menschenkörper, ein hermaphroditischer Entenmensch mit bis zu Waden heruntergezogenem Schlüpfer. Er schwebt über einen goldgelb gleißenden tiefen Schacht, in den er hinabzustürzen droht. Eine Federzeichnung von 1975, "Der warme Strahl" betitelt, zeigt ein wohl urinierendes Kind vor dem gleichen ausgeschachteten Abgrund sitzen. Seine Augen sind verbunden, das Unterhöschen ist bis über die Schenkel herabgezogen.
Beide Bilder suggerieren ein peinvolles Gefühl der Unterlegenheit und des Ausgeliefertseins an eine bedrohliche Situation. Wiederholt hat der Künstler das angstbesetzte Peinlichkeitsgefühl im Symbol der heruntergezogenen Unterhose ausgedrückt: "Das Verhängnis des jungen Anwalts", Federzeichnung von 1979, "Der Zwischenfall", Aquarell von 1979; ferner eine eindeutig auf den Sexualakt bezogene zeichnerische Paraphrase zu Horst Bieneks "Der Sommer der Königskerze" und das Cover für Thomas Northoff, Schmutz & Schund, Wien 1983.
"Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht." 23) Der hauptsächlich Betroffene, das Opfer der Verbotsübertretung ist zweifellos das unschuldige Kind, dem Helnwein in seinen zahlreichen Bildern verletzter und misshandelter Kinder ein Denk- und Mahnmal gesetzt hat.
Diese moralistische Seite seiner schokierenden Grotesken und seiner mit dem Triebanarchismus des "Wiener Aktionismus" nicht zu verwechselnden "Aktionen" 24) wird häufig verkannt und übersehen: "Peinlich (1971), "Beautiful victim I - II" (1974), "Leid macht stark" (1974), "Lichtkind" (1976), "Licht ins Gesicht" (1976), "Crocodile Rock" (1978), "Lebensunwertes Leben" (1976), "Das Lied" (1981), "Das Malheur" (1984) und nicht zuletzt das skandalöse Titelbild für die Zeitschrift "profil" zum Thema "Vorschulerziehung: Lässt sich Intelligenz manipulieren?" (1973).
Das von kultureller Zensur und Verdrängung modellierte Kind verfügt aber auch über einen aggressiven Abwehrmechanismus, den der Künstler nicht unterschlagen hat. Im Gegenteil, er stilisiert das ungezogene, "unanständige", grausame Kind mit respektlos herausgestreckter Zunge, nicht zufällig vor allem das der domestizierenden patriarchalen Erziehung widerstrebende kleine Mädchen, zur zentralen subversiven Figur seiner Gesellschaftskritik: "Das Sonntagskind", "Guten Morgen, liebe Enten", "Freud und Leid", alle Bilder sind 1972 entstanden.
Das zuletzt genannte Skizzenblatt zeigt recht aufschlussreich, wie der Künstler das in den Funny-Animal-Strips weitgehend zurückgedrängte aggressive Potential der kindlichen Phantasie herausarbeitet und in Akte der Abwehr und Selbstbehauptung transformiert. Neben Skizzen von Ballet tanzenden Hasen und gestiefelten Katzen, strangulierten und gestopften Enten finden sich Studien oder eher Wunschzeichnungen zu malträtierten Kinderköpfen, deren Münder durch Spangen und rosige Narben grauenhaft entstellt sind, aber gleichzeitig durch ihre höhnischen, Fratzen schneidenden Grimassen Ungehorsam, Widerstand, Aufruhr, so etwas wie kindliche Autonomie in der depravierten Erwachsenenwelt signalisieren.
Das Feixen des malträtierten Kindes, ein groteskes Vexierbild, in das Märtyrertum und Subversion der Menschenkreatur gleichermaßen eingeflossen sind, ist ganz allein Helnweins Erfindung. Sie offenbart sich in den vielen Metamorphosen des Phantasmas vom versehrten Körper als obsessives Grundmuster seiner Bildwelt und aktionistischen Darstellungen, als Metapher einer im Innersten des Menschen vorhandenen Unverletzlichkeit und Unbesiegbarkeit.
IV.
Das Komplement des Peinlichkeitsgefühls ist das Schamgefühl. Es ist "eine Angst vor der sozialen Degradierung..., vor der Überlegenheitsgeste Anderer,... es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und sich dadurch auszeichnet, dass der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muss, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann." 25) Helnwein hat die menschliche Angst vor sozialer Degradierung und der Überlegenheit Anderer in zahllosen Portraits des wehrlosen Kinderkörpers eingefangen. Das Gesicht und die Mundzone werden zum bevorzugten Schauplatz des gesellschaftlichen Machtkampfes zwischen dem vom Es dominierten kindlichen Ich und den es einschränkenden Überich Instanzen und kulturellen Verboten.
"Das gemeine Kind", ein leider verschollenes Bild von 1972, könnte man fast eine didaktische Topographie des Schamgefühls nennen, denn das Gesicht ist hier in einzelne neuralgische Punkte und Zonen der Misshandlung unterschieden und gekennzeichnet. Besonders signifikant ist der durch einen Einschnitt in die Wange vergrößerte Mund, eine Deformität, die in vielen Gesichtern und Groteskphysiognomien, teilweise auch in der Metamorphose des Froschmauls oder Krokodilrachens, in manchen Grimassenphotos aus Aktionen, in den Selbstdarstellungen und Selbstbildnissen des Künstlers als beschädigter, "kastrierter" Mann, wiederkehrt und in Helnweins Psychologie den Stellenwert eines oralsadistischen Fetischs hat: "Du hast einen großen Mund" (1977), " Zwei amerikanische Ärzte erlauben sich einen Scherz mit einer Patientin" (1977), "Das falsche Krokodil" (1979), "Mißgeschick II" (1980), "Das unergründliche Lächeln des fernen Ostens" (1984), und besonders drastisch "Peinlichkeit" (1971).
Auch in den naturalistisch gemalten Köpfen und Selbstbildnissen, die teilweise im Maßstab 1:1 und noch größer ausgeführt sind, liegt der Akzent auf dem Ausdruck des Mundes und der Lippen, während der Kopf häufig bandagiert und bis zur Unkenntlichkeit verbunden ist. Der singende, schreiende, beißende oder schmerzverzerrtaufgerissene, durch chirurgische Metallklammern aufgeklaffte, bis in den Rachen hinein sichtbare Mund erscheint als gähnende, manchmal zahnbewehrte Öffnungen.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass dieser ebenso lust - wie angstbesetzte, "einverleibende" Organ, durch das die Grenzen des Körpers freiwillig oder gewaltsam überschritten werden können, im Werk Helnweins eine große Bedeutung hat. Die negative Besetzung des oralen Eros jedoch überwiegt. Unmissverständlich wird die Tortur des kleinen Mädchens in einer früheren Arbeit von 1972 mit dem Titel "Der Eingriff (Na weißt Du!)" als gewaltsames Öffnen und Manipulieren der Mundhöhle dargestellt.
Die Gesten der sozialen Degradierung, der instrumentellen Vernunft und letztlich auch der väterlichen Autorität verkörpert der Arzt, der Operateur und der Anästhesist mit der Spritze, der Spezialist für die "Zerstückelung des Körperphantasmas" (Jean-Jacques Lacan), bei Helnwein eine fixe, sich wiederholende Symbolfigur gesellschaftlicher Zwänge und kultureller Disziplinierung.
Helnweins Bildwelt kennt keine positiven Vaterfiguren, mit denen der Betrachter sich identifizieren könnte. Die patriarchale Autorität erscheint hier als sadistisches Schnabeltier, das über seinen "Patienten" gebeugt ist, anderswo als maskierter Lustmörder ("Das Spiel ist aus, Madame", 1985), als fieser "Taschenbillardspieler" (1974), dessen obszönes Spielzeug der Maler zum "telekinetischen" Fetischobjekt befördert, ebenso aber als gestrenger wie närrischer "Entenbischof" (1977) oder als grotesker Abkömmling des Pechvogels Donald Duck, der in einer Zelle eingesperrt ein Hirngespinst pflegt ("Ein eigenartiger Hut", 1977).
Der Durchschnittsmann hat oft einen Doppelgänger, der das Ich komisch und klischeehaft erscheinen lässt. Anstatt Originale und Einzelpersönlichkeiten bringt Helnwein Typen, die er gerne als Paare und Zwillinge zeichnet wie die "Amerikaner" (1973), die lustigen, einer Kinderzeichnung entlehnten "Schlawiner" (1979), die der Trademark für Meinl-Kaffee aggesehenen "poppigen" Mohren oder das Spitzbuben-Duo in "Ja,Ihr zwei! ( I )" (1972). Die Repräsentanten der männlichen Kultur sind Hanswürste, Clowns und Harlekine. Sie tragen fast alle lange Pappnasen wie der ärztliche Grobian "Dr. Dotter" und die kindischen "Väter" mit ihren umarmten oder geschulterten Sprösslingen.
Für das Rollenspiel phallischer Fratzen und Charaktermasken hat der Künstler sogar Prothesen erfunden wie den "Kinnschutz" oder die "Metall-Lippe zum Lächeln", die das Sinnbild der beschädigten Menschen in dem zwischen Tragik und Komik stehenden Gesamtwerkes ergänzen. In dieser "vaterlosen Gesellschaft" bleibt das Kind sich selbst mit seinen angsterfüllten Phantasien überlassen, denn auch das alternative weibliche Prinzip erscheint als stigmatisierte Opfergestalt, als ohnmächtige, vergewaltigte oder masochistische Objektfrau: "Paranormale Lichter vor der Einweisung und Behandlung" (1975), "Der Zwischenfall" (1979), "Heimkehr" (1979), "Nötigung" (1981).
Nur ausnahmsweise wird die Körpersprache der kindlichen Unterlegenheit transzendiert. Mit dem Bildnis des unbeschwerten, fröhlichen, heilen Kindes in "Die Himmelfahrt meines Sohnens" (1980) hat der Künstler ein autobiographisch verständliches utopisches Wunschbild gegeben, das von der Aussage des Gesamtwerks abweicht.
Mit dem mehrmals abgewandelten Schlüsselbild "Licht ins Gesicht" (1976) geht Helnwein an die Grenze seiner Ausdrucksmöglichkeiten: In der verheißungs-vollen poitiven Lichterscheinung, die das Kind wie einen leuchtenden Nimbus umstrahlt, bleibt das Gesicht unsichtbar und unbestimmt. Eine Stufe höher in der Wertskala Helnweins als das subversive "gemeine Kind" steht der unbefleckte Kindmensch, dessen imaginäre "Heiligkeit" und "Unschuld" sich wie in der religiösen Malerei der realistischen Darstellung in die Abstraktion des Lichtscheins, sei es einer totemistischen Lichtstele (in "Johannisfeuer", 1976), sei es eines explodierenden Feuerwerks, zu dem der Künstler den Nimbus abwandelt ( wie in "Das Malheur", 1984), entziehen.
Die Licht spendenden, explosiven Kräfte sind Symbole der Befreiung und des kreatives Unbewussten, die Helnwein in seinem Protestbild und Cover gegen den "Stress" (1979) rational und allegorisch verwendet: die Sprengkraft des Körpers ist stärker als die Gewalt eines Betonmantels. Bereits "Lichtkind", ein Aktionsfoto von 1973, dem drei Jahre später ein gleichnamiges Aquarell folgt, mystifiziert das Kind zur säkularen Erlöserfigur, deren Augen, Hände und Beine Lichtstrahlen wie selbstleuchtende Stigmata aussenden. Der Künstler hat seine dekuvrierenden Bildnisse nach Idolen des 20. Jahrhunderts einmal "Heiligenbilder" genannt, als deren utopische Gegenstücke wir uns jetzt die mystischen Ikonen der Kinder gut vorstellen können.
V.
Die intuitiv gefundene Symbolik für Scham und Peinlichkeit verschiebt sich seit Mitte der siebziger Jahre, mit dem Andrang der skurrilvisionären Federzeichnungen und anschließenden Aquarelle vom Sozialen immer mehr ins Psychische. Neben den Phantasmen zum versehrten Körper, die in den Aktionen und naturalistisch gemalten Psychogrotesken manifest vorhanden sind, drängen sich jetzt zusammen mit einem Stil surrealer Verfremdung Mutterleibsphantasien" vor. Sie aktualisieren die im Traum vorkommende Wunschvorstellung des Kindes, im Mutterleib eingeschlossen zu sein und die Vorgänge des Intrauterinlebens zu beobachten. Es ist hier nicht beabsichtigt, die lebensgeschichtlichen Ursachen dieser Regression bei Helnwein zu untersuchen, sondern sie als künstlerische Inspirationsquelle lediglich kenntlich zu machen.
Der bedrohliche Schlund des Mundes wird von der Psychoanalyse des Traums als "vagina dentata" sexuell gedeutet. In der Traumarbeit bedient sich der Mensch der symbolischen "Übertragung" einer von der Moralzensur betroffenen sexuellen Wunschvorstellung in eine andere, die den gleichen Inhalt in getarnter, verhüllter, moralisch unbeanstandeter Form zum Ausdruck bringt. Nach diesem Modell umgeht bekanntlich auch der Künstler die Zensur des Bewusstseins und lässt sich von seinen unbewussten Wunschphantasien zu neuen Schöpfungen (Formverdichtungen, Metamorphosen, Neomorphismen) anregen.
Bei Helnwein verschiebt sich die Gestalt der Mutter, deren realistische Verkörperung man in seinem Werk vergeblich sucht, auf Formen, die scheinbar nichts mit ihr zu tun haben, in Wahrheit aber eine psychische Analogie zu ihr bilden. Hohlräume, Zellen, Zimmerchen, Schächte, Becken und Wannen symbolisieren den libidinös besetzten weiblichen Körper und seine inneren Organe.
Helnweins Unbewusstes hat zu Ehren des Mutterleibes eine phantastische Architektur von Kanälen, Rinnen, Abflüssen und Kloaken, die in Gefängnissen und auf Richtblöcken einer kafkaesken "Strafkolonie" installiert zu sein scheinen, erfunden: "Das Brandopfer", "Ein als Neger verkleideter Pfleger behelligt eine Patientin", "Die Rinne" (alle Arbeiten 1976), "Die Mulattin Erika in ihrem Haus" (1977).
Wir sehen kein einziges Beispiel, wo der Künstler diese Phantasmen des Mutteruterus mit positiven, lustvollen Vorzeichen versehen hat und sie anders denn als peinvolle Allegorien menschlicher Einsamkeit und Gefangenschaft gesehen werden können. "Der oberflächliche Philosoph", ein Aquarell von 1983, zeigt einen von Angst gelähmten Mann, der vor einem offenen Schrank in einem aus Keller und Aquarium verdichteten tiefseeblauen Raum hockt und von seinem aggressiven, penisartig geformten, gelben Fischmonstrum gesichtet wird. Die "präödipale" Begegnung mit dem mütterlichen Körper ist in diesem Bild ein bedrohliches Ereignis für den Mann, der zwischen den Fronten des kastrierten Vaters und der verschlingenden Mutter seine Männlichkeit behaupten muss. Den Blau-Gelb-Kontrast macht sich der Maler der Paralyse mehrmals zunutze, um die Lähmung, Erstarrung, Gehemmtheit des Triebes auszudrücken.
Eine Reihe von Federzeichnungen und Aquarellen zeigt die angstbesetzte Verschmelzungsphantasie mit dem mütterlichen Genitale als Gefahr des Fallens oder Abstürzens in einen dunklen Schacht: "Erstes Verschnaufen nach dem Eingriff" (1975), "Anna im Aufwind" (1976), "Zwei amerikanische Ärzte erlauben sich einen Scherz mit einer Patientin", "Das Grubenunglück" (1977), "Verfluchtes Gold" (1984). Den vielen beklemmenden, angsterfüllten Flugträumen ("Das Testkind", "Mein schwebender Freund", "Anna im Aufwind", "Verfluchtes Gold") stehen wenige lustbetonte, zumindest ambivalente Phantasmen des horizontalen Schwebens und Fliegens gegenüber, Schreck- und Schwindelgefühle, die wie im Traum die Eindrücke der Bewegungsspiele der Kinderzeit wiederholen und bei Helnwein manchmal eine magische Zweideutigkeit von Meditationshaltung und Totenstarre ausstrahlen, beispielsweise mit dem Teppich durch die Lüfte fliegen "Mohre" (1977), der "Wurmkönig" (1977), "Das unergründliche Lächeln des Fernen Ostens" (1984).
Der Auftrag für die Illustrationen zu Poes "Unheimlichen Geschichten" von 1979 bringt die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches. Bei diesem Autor findet Helnwein, denkt man an die Geschichte von "Wassergrube und Pendel", eine verwandte psychische Konstellation, die in ähnlichen Phantasmen der Angst zum Ausdruck kommt. Marie Bonaparte, die Psychoanalytikerin des Poeschen Werks meint, "das diese Geschichte von der Kastrationsangst beherrscht wird... Die langsame Kastrierung des Herzens... droht dem Gequälten von dem funkelnden, stählernen Halbmond. Der Schrecken vor dem Brunnen kann gleichfalls zum großen Teil von der Furcht vor der Kastration herkommen, da für Poe die Vagina der Frau verboten, gefürchtet, gezahnt und kastrierend war".
Seine zahlreichen Mutterleibsangstphantasien, durch die die Wassergrube und die "uterine" Zusammenziehung der Gefängnismauern ein drastisches Beispiel abgeben, sind ebenso Ausdruck des durch Kastrationsdrohung Gehemmten, wie die phallischen Phantasmen zum "menschentötenden, stählernen Halbmond", der den Vater symbolisiert. 27)
Helnwein ist von Poe beeindruckt und hat ihn "illustriert", noch bevor er den Auftrag dazu erhielt. Sehr aufschlussreich für diesen Vorgriff sind die Arbeiten "Erstes Verschnaufen nach dem Eingriff", "Das Grubenunglück", "Die Kostprobe" und "Schmerzensfrau". Er ist in seiner künstlerischen Ausdrucksweise von der angstbesetzten Zuwendung zur Mutter wie zum Vater ähnlich wie Poe, aber in anderer Gewichtung geprägt. Die unbewusst ihn ängstigende Rolle, die der Vater, im Leben ein ordnungsliebender, pedantisch genauer Postbeamter, dabei ungleich stärker als die Mutter spielt, findet in den vielen Selbstportraits und aktionistischen Selbstdarstellungen mit verbundenem Kopf, mit den von chirurgischen Haken "geblendeten" Augen und dem von Wundklammern fixierten Mund eine symbolische Übersetzung.
Entscheidend ist hier weniger die authentische ausdruckspsychologische Seite der Kastrationsangst als der bewusst künstlerische Anspruch auf eine unverbrauchte, suggestive, unter die Haut gehende, gleichwohl ästhetische Metapher des Leidens und der menschlichen Verletzlichkeit. Der Hinweis auf die Aggressions- und Todessymbolik, den "Ur-Masochismus" (Freud) der religiösen Kunst liegt hier nahe und Helnwein hat ihn selbst formuliert: "die abendländische Kunst hat sich immer schon mit ähnlichen Dingen beschäftigt. Wenn sie in eine Kirche gehen, ist die verehrte Zentralfigur ein Gemarterter und Hingerichteter, verehrt werden gefolterte Märtyrer und Marterwerkzeuge. Die Motivation wird vom realen Faktumins Mythisch-Religiöse verdrängt, bei Hieronymus Bosch ins Historische. Mein unbewusstes Interesse an diesen Dingen, glaube ich, ist allgemein menschlich, meine Mittel, es auszudrücken, sind bewusst gewählt. Der Unmut darüber, denke ich, ist eine psychische Schutzmaßnahme für die eigene künstliche Realität, die die Möglichkeit von Grausamkeit und Aggression aus eigener Bequemlichkeit verdrängt". 28)
Die Triebambivalenz von Eros und Aggression, der ständige Konflikt zwischen beiden, bedient sich der Kunst als eines Ventils. Bricht sich der Eros in der Ästhetik des Schönen und Harmonischen eine Bahn, so verbündet sich die Aggression mit der Ästhetik des Hässlichen und Dissonanten, die bei Helnwein in satirischer Gestalt als Verletzung des Scham- und Peinlichkeitsgefühls erscheint.
Die Kastrationsinstrumente und Leidenswerkzeuge des Aggressions- und Todestriebes sind die stählernen Bestecke, Zangen, Sonden, Katheter, Kanülen, Pipetten, die den Körper verformen und in ihn symbolisch eindringen. Eine antiquarische Sammlung chirurgischer Operationsbestecke, die der Künstler aus einem veralteten Spital der Barmherzigen Schwestern erwarb und durch Neuerwerbungen ständig ergänzt, ist das für seine Modelle, sich selbst und seine Kinder eingeschlossen, unverzichtbare Requisit.
Der Künstler reiht sich mit seinen unabdingbaren Selbstbildnissen als kastrierter Kastrator in das ästhetische Märtyrertum seiner Darstellungen drangsalierter Kinder ein. Er ist selbst mit Leib und Seele Symbol des Märtyrers und der Erlöserfigur des Kindmenschen. Er ist ein Opfer des Sadismus der Väter und schließt sich dennoch von keiner Schuld aus. Der Künstler Helnwein ist vielleicht der exemplarische Fall eines satirischen Temperaments, das sich an der stärksten Aggression erregt und sich dazu bekennt, ein Schmerzensmann und Büßer, ein Ankläger und vermaledeiter Moralist zu sein.
1) Benjamin über Brecht in: Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt a.M. 1966, S.135
2) Ich lernte den damals marxistisch beeinflussten Maler 1973 in seinem früheren Atelier in der Hetzgasse kennen. Pädagogik und Kinderpsychologie gehörten zu seinen Interessen. Als Redakteur der damals in Frankfurt a.M. erscheinenden Kulturzeitschrift "Ästhetik und Kommunikation" suchte ich ein passendes Titelbild für eines unserer Hefte, das der Kritik der Medienpädagogik, dem Kinderspiel und einigen Vorschulprojekten gewidmet war. "Das Sonntagskind" von 1972, damals noch ohne Titel, wurde schließlich als Rückcover für Heft 11/1973 genommen. Die Redaktion gab ihm den Kontext mit der Heftthematik den Titel, der einen bekannten Slogan aus einem Kinderspiel zitiert: "Ich seh, was du nicht siehst." Dies war einerseits eine zynische Anspielung auf ein durch Blindenbinde stigmatisiertes, aber vielleicht nur blind spielendes "ungezogenes Kind", das uns aber andererseits als ein einprägsames Symbol des vernachlässigten, unterdrückten Kindmenschen erschien. Helnwein zeigt sich bei meinem Besuch in Wien an der aktuellen Diskussion über materialistische Ästhetik interessiert. Wir sprachen über Brechts "Radiotheorie" und Benjamins Arbeit über das "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", die als theoretische Grundlage seiner künstlerischen Arbeit erkannte.
3) Peter Gorsen: Transformierte Alltäglichkeit oder Transzendenz der Kunst, Frankfurt a.M. 1981, S.17 f.
4) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963, S.45
5) A. a. O., S 38
6) A. a. O., S 39
7) Stellungnahme in profil, Nr. 12(Okt.), 1972, S.64
8) Merkblatt der Et cetera-Galerie, Wien 1972
9) Interview in Wochenpresse v. 12. Mai 1976, Wieder abgedruckt in einem Sammelband der Helnwein-Rezensionen , Wien 1983
10) Erving Goffman: Interaktionsrituale, Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a.M. 1971, S.15
11) Ebd.
12) A. a. O., S 14
13) A. a. O., S 21
14) Dagmar von Doetinchen/Klaus Hartung: Zum Thema Gewalt in Superhelden -Comics, Berlin 1974, S.145,148
15) Gottfried Helnwein: Ein trend.profil-Buch bei Orac Pietsch, Wien 1981, S.246
16) Günter Metken: Comics, Frankfurt a.M. 1970, S 169 ff.
17) Karl Riha: Zok Roarr Wumm, Zur Geschichte der Comics-Literatur, Giessen 1970, S. 5, 39
18) Z.B. Herve Telemaque und Bernard Rancillac. Vgl. Metken, a.a.O., S.186 f.
19) Doetinchen/Hartung, a.a.O., S. 161, 163
20) Ebd.
21) Riha, a.a.O., S.29
22) Reinhold C. Reitberger/Wolfgang J. Fuchs: Comics, Anatomie eines Massenmediums, München 1971, S. 45. Vgl. Jutta Wermke:Wozu Comics gut sind?!, Unterschiedliche Meinungen zur Beurteilung des Mediums und seiner Verwendung im Deutschunterricht, Kronberg i. Ts. 1973, S. 163
23) Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, II. Bd., Bern/München 1969, S. 404
24) Z.B. jene, die zur Eröffnung des 1976 mit gleichgesinnten Künstlern eingerichteten" Zentrum für Kunst und Kommunikation" in Wien stattfanden: Helnwein, 1981 a.a.O., S. 249 f. Über den Zusammenhang des "Wiener Aktionismus" von Brus, Nitsch, Muehl und Schwarzkogler mit den Aktionen Helnweins betseht in der Kunstkritik viel Unklarheit. Helnwein hat erst um 1975/76 den "Wiener Aktionismus" kennen und inzwischen Nitsch, vor allem aber auch Arnulf Rainer schätzen gelernt, ein für den Isolationismus in Wien lebender Künstler typisches Phänomen. Der gelegentlich geäußerte Verdacht eines Plagiats gegenüber den 1966/67 erfolgten "Bandagen-Aktionen" Rudolf Schwarzkoglers, der 1969 nahezu unbekannt aus dem Leben schied und dessen Arbeit erst in den letzten Jahren teilweise publiziert wurde, ist völlig unbegründet. In der bewegten Kunst- und Skandalgeschichte der österreichischen Moderne von Schiele, Gerstl, Schönberg und anderen bis zur "Wiener Aktionsgruppe" wird man Helnwein einen gebührenden Platz zuweisen.
25) Elias, a.a.O. S. 97
26) Vgl. Freud: Die Traumdeutung, Ges. Werke, Bd. II/III, S.687 ff. "Träume sind verhüllte Erfüllungen von verdrängten Wünschen".
27) Marie Bonaparte: Edgar Poe, Eine psychoanalytische Studie, III. Bd., Wien 1934, S. 161 f.
28) Helnwein in einem Interview von Erwin Melchart in: Kronenzeichnung v. 1.Okt. 1972
Gottfried Helnwein, ONE MAN SHOW, ALBERTINA MUSEUM, VIENNA, 1985
1985 Helnwein Katalog, Albertina museum, Wien Peter Gorsen