Mittelrheinmuseum, Koblenz – 30. November 1991
Johannes Rother, Intoleranz und Gewalt
ABOUT GOTTFRIED HELNWEIN II
Intoleranz und Gewalt
Seit geraumer Zeit wird in der Bundesrepublik eine erschreckende gesellschaftliche Entwicklung verzeichnet: Misstrauen, Abneigung und Intoleranz allen Menschen gegenüber, die anders aussehen oder anders denken, scheint wieder allgegenwärtig. Hass auf Minderheiten manifestiert sich in brutalen Übergriffen und Attentaten. Symptomatisch für diese Geisteshaltung und ihre Konsequenzen steht für viele der Brandanschlag auf das Wohnhaus einer türkischen Familie in Solingen. In der Nacht auf den 29. Mai 1993 kamen dabei 5 Menschen ums Leben: Vier verbrannten in den Flammen, eine Frau starb bei dem Versuch, ihre Tochter durch einen Sprung aus dem Fenster vor dem Tod zu retten. Das Kind überlebte schwerverletzt.
Die Reaktion
Zweifelsohne ist in Politik, Wissenschaft und Medien ein Dialog über Gründe, Verbreitung und Gefahren der neuen Gewaltbereitschaft in Gang gekommen: Man untersucht, wägt ab,, vergleicht, differenziert und betreibt Ursachenforschung. Die Hinweise auf mögliche Erklärungsmuster wie Rezession, Fehler in der Asylgesetzgebung, hohe Arbeitslosigkeit, allgemeiner Werteverlust und anderes mehr sind Legion. Gerade die Politik jedoch gerät zunehmend in die Gefahr, das eigentlich Wichtige aus den Augen zu verlieren und nicht mehr klar genug auszusprechen: Die eindeutige Ablehnung jeder Gewalt gegenüber Menschen, die Verurteilung von Intoleranz und Fremdenhass, die notwendige Thematisierung des Schreckens. Die Folge: Je komplexer die Darstellung des Problems auf offizieller Seite, je unschärfer die Antwort auf die Geschehnisse, desto größer die Gefahr der Verdrängung.
Helnwein
Auch die bildende Kunst scheint sich aus dem schwierigen Geschäft zurückgezogen zu haben und allenfalls für Galerien, Sammler, Eliten zu produzieren. Gottfried Helnwein, 1948 in Wien geboren, gehört zu den wenigen zeitgenössischen Künstlern, die sich nie der Verantwortung entzogen haben, mit den Mitteln der Kunst auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Vielen Menschen ist seine Bilderstrasse "Neunter November Nacht" noch in Erinnerung. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der "Reichskristallnacht", des Beginn des Holocaust im Jahre 1938, konfrontierte er Kölner Passanten mit einer wie zur Selektion aufgereihten und endlos scheinenden reihe überlebensgroßer Kindergesichter. Simon Wiesenthal schrieb damals: "Menschen, bleibt bitte alle stehen, schaut Euch diese Kindergesichter an und multipliziert ihre Zahl mit einigen Hunderttausend. Dann werdet ihr das Ausmaß des Holocaust, der größten Tragödie in der Geschichte der Menschheit erkennen oder erahnen.
Das Konzept
Einige Tage nach dem Brandanschlag in n Solingen hat Helnwein das überlebende türkische Mädchen besucht und fotografiert. Mit den ureigenen Mitteln der Kunst als non-verbaler Kommunikation und der ihm eigenen künstlerischen Radikalität und Kompromisslosigkeit verlässt er den Bereich rational-intellektueller( und damit immer auch distanzierter)Auseinandersetzung mit der Thematik und spricht unmittelbar die Emotionen der Menschen an. Anknüpfend an "Neunter November Nacht" zeigt Helnwein sechs Fotografien des Opfers, alle in der Größe von 15 x 10 Metern. Kein Kommentar lenkt von Leid und Schmerz ab: Allein der Blick in das Kindergesicht lässt im ganzen Umfang begreifen, was es bedeutet, Opfer von Gewalt zu sein. Keine noch so anspruchsvolle und differenzierte Abstraktion der Thematik vermag derart intensive und unmittelbare Betroffenheit beim Betrachter zu bewirken. Erklärte Absicht Helnwein ist es, emotionale Prozesse bei einer möglichst großen Anzahl Menschen in Gang zu setzen- gemäß der Überzeugung, dass das Problem Gewalt gegenüber Fremden nicht durch wenige Experten, sondern nur durch die Gemeinschaft zu lösen ist. Er verlässt deshalb wiederum den Museumsbetrieb und installiert seine Bilder im öffentlichen Raum der Straße- so trifft er den Betrachter direkt und unvorbereitet.
Mit der Sprache seiner Kunst, der Reduktion auf das Wesentliche und der direkten Ansprache des unvorbereiteten Passanten, will der Künstler sein Ziel erreichen: Mitleid, Mitgefühl beim Betrachter zu wecken und so den Einzelnen instinktiv spüren zu lassen, dass er das, was in Solingen geschah und überall wieder geschehen kann, nicht will.
1992 Johannes Rother