Die Welt – 8. Juni 2001
Strawinskys "The Rake's Progress", 2001
AM ENDE IST DA NUR NOCH DIE NACKTE WAHRHEIT
Jürgen Flimm über seine Operninszenierung "The Rake's Progress" und die Lage der Hamburger Theater
Kein Plakat kündigt bisher die Staatsopern-Premiere von Igor Strawinskys "The Rake's Progress" an. Ungewöhnlich diskret für ein Ereignis, das bereits am kommenden Sonntag stattfindet. Zumal wenn Gottfried Helnwein, seit seinen provozierenden Plakaten zu "Lulu", "Andi" und "Pasolini" für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg berühmt und berüchtigt, der Bühnen- und Kostümbildner ist. Und immerhin inszeniert Jürgen Flimm, Ex-Intendant des Thalia Theaters, erstmals nach 20 Jahren wieder am hiesigen Opernhaus. Für die WELT sprach Monika Nellissen mit Jürgen Flimm über seine Inszenierung.
DIE WELT: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit Herrn Helnwein zusammenzuarbeiten?
Jürgen Flimm: Wir haben uns auf einer Geburtstagsfeier in Wien kennen gelernt und nett unterhalten. Da kam mir die Idee, dass er, wenn ich hier "The Rake's Progress" inszeniere, das Bühnenbild machen sollte, weil er extrem auf die Leute gucken kann.
DIE WELT: Und wie extrem ist nun sein Bühnenbild ausgefallen?
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Flimm: Es gibt gar keins. Es gibt einen weißen Raum, in dem Projektionen von Dias und Videos stattfinden. So entsteht eine merkwürdige Scheinwelt, in die sich Tom Rakewell flüchtet. Am Schluss fällt das aber alles zusammen. Da ist nur noch die nackte Wahrheit, wenn er verrückt ist. Da endlich ist er bei sich.
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DIE WELT: Sie haben sich ausdrücklich eine Oper der klassischen Moderne gewünscht. Was fasziniert Sie am "Werdegang eines Wüstlings", an diesem schlitzohrig komponierten Sittenstück um einen willensschwachen Mann, der vom Teufel manipuliert wird?
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Flimm: Das Libretto von Wyston Hugh Auden gehört in seiner dichterischen Kraft wahrscheinlich zu den besten der Operngeschichte. Und Strawinsky, der mit hoher Intelligenz Anleihen bei der gesamten Musikgeschichte gemacht hat, ohne sie wörtlich zu zitieren, hat eine köstliche Musik geschrieben.
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DIE WELT: Es war zu lesen, dass Sie die doch eher scherenschnittartigen Figuren psychologisch ausdeuten.
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Flimm: Das stimmt nicht. Ich gehe zwar sehr exakt mit ihnen um, aber sie bleiben Typen.
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DIE WELT: Strawinsky hat sich einmal einem unwilligen Musiker während der Probe widersetzt: "Entschuldigen Sie bitte, aber ich mag meine Musik." Würden Sie manchmal gern sagen, dass Sie Ihre Inszenierungen mögen, wenn Sie von der Kritik etwas um die Ohren bekommen?
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Flimm: Natürlich. Aber man macht ja auch Murks. Das stellt man allerdings erst hinterher fest.
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DIE WELT: Sie haben unlängst gefordert: "Das Theater muss erzählen, erzählen - die alten Geschichten von Mitempfinden, Mitleid und Solidarität. Wenn es das preisgibt, verliert es sein Bestes, und das Publikum läuft ins Leere." Viel schlimmer, es läuft weg. Auch am Thalia zeigt sich das Publikum verschreckt.
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Flimm: Ich finde, dass Khuon und seine Leute für den großen Umbruch eine sehr gute Spielzeit gemacht haben.
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DIE WELT: Was halten Sie von dem Ausspruch des Schauspielhaus-Intendanten Tom Stromberg: "Ich habe es satt, von Zahlen zu reden und Erbsenzählerei zu betreiben. Ich will über Inhalte sprechen."
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Flimm: Das ist ein guter Satz, wenn es Inhalte gibt. Jeder, der in Hamburg ein Theater leitet, wird, das ist eine gute Übung, an Zahlen gemessen. Es geht schließlich um öffentliche Gelder. Niemand wird mir aber erklären können, warum das Schauspielhaus immer noch sechs Millionen Mark mehr bekommt als das Thalia, obwohl es inzwischen weniger Plätze hat. Das muss geändert werden.
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DIE WELT: Tut es Ihnen trotzdem weh, wenn Sie sehen, dass das Schauspielhaus im Schlamassel steckt?
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Flimm: Beim Thalia täte es mir weher. Beim Schauspielhaus sagen wir: Das hatten wir schon. Wir können nur hoffen, dass sich der schlingernde Dampfer fängt. Baumbauer, der Stromberg fünf Millionen hinterlassen hat, war ein grandioser Intendant. Das finanzielle Polster hilft Stromberg jetzt über die Runden. Selbst wenn er das ohnehin reduzierte Einnahmesoll nicht erreicht, muss er laut GmbH-Satzung die Mindereinnahmen mit seinen Ausgaben nur ausgleichen. Das Geld hat er von Frank, da kommt er weit.
Bilder zu "The Rake's Progress" von Igor Strawinsky
Bühnenbild und Kostüme: Gottfried Helnwein
www.helnwein.org/werke/theater/group15/image.html
08. Juni 2001 Die Welt
Hamburgische Staatsoper
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