Frankfurter Allgemeine – 11. Oktober 1988
"Neunter November Nacht",Installation zwischen Museum Ludwig und Kölner Dom
Äfflinge und Tschandalen
Die Bilderstrasse zwischen dem Kölner Dom und dem Museum Ludwig ist hundert Meter lang. Jedes der Bilder ist vier Meter hoch
Es sind täglich Tausende, die den hinteren Teil der Domplatte passieren, und die weitaus meisten von ihnen, die nur die Bildersprache der Werbung an dieser Stelle kennen, sind verdutzt, empört, schockiert über die bleichen Kindergesichter,die im Scanachrome-Verfahren auf Kunststoffolie gebracht worden sind.
Kaum war die Bilderstrasse installiert, kam es schon zu ersten Beschädigungen: Nachts wurde mit Messern in die, durch das Schminken verfremdeten, alt wirkenden grossformatigen Kinderportraits hineingestochen, ein Bild wurde gestohlen.
Kölner Museen und die Stadtverwaltung erhalten täglich Dutzende Anrufe und befinden sich im Erklärungs- und Legitimationszwang.
und der, der sie geschaffen hat, sitzt davor, erkennbar am schwarzen Stirntuch, das inzwischen sein Markenzeichen geworden ist.
Gottfried Helnwein, der Grenzgänger zwischen den Künsten,der glaubt,dass es ihm schicksalhaft zugefallen ist, andere provozieren zu müssen, betrachtet nicht seine Fotos, sondern die Menschen, die vorübergehen und von denen einige stehenbleiben, um seine Bilder zu betrachten.
Es sind täglich Tausende, die den hinteren Teil der Domplatte passieren, und die weitaus meisten von ihnen, die nur die Bildersprache der Werbung an dieser Stelle kennen, sind verdutzt, empört, schockiert über die bleichen Kindergesichter,die im Scanachrome-Verfahren auf Kunststoffolie gebracht worden sind.
Genau diese Reaktion hat Helnwein erwartet, und er registriert sie mit Genugtuung.
Allerdings liegen die meisten Betrachter mit ihrer spontanen Vermutung falsch, und selbst der lässig recherchierende Mitarbeiter einer Kölner Boulevardzeitung wollte seinen Lesern weismachen, dass es sich um die Abbildung umweltgeschädigter Kinder handle.
Gottfried Helnwein hatte jedoch die fünfzigste Wiederkehr der "Reichskristallnacht" im Blick, als er sein Projekt "Neunter November Nacht" anging.
Monatelang fahndete er in der Eifel, wo der gebürtige Wiener seinen Wohnsitz hat, und im Kölner Raum nach geeigneten Kindergesichtern, die Ähnlichkeit haben mit Äfflingen,Tschandalen, Juden, und allen, die der Nationalsozialismus liquidieren wollte". Die Kinder im Alter zwischen vier und acht Jahren stellte er vor einen weissen Hintergrund, schminkte sie leicht weiss, um die Egalität derSelektionsmaschinerie herauszustellen, und fotografierte sie Tausende Male, "stets ohne künstliches Licht".
Seit Jahren befasst sich Helnwein mit der Rassenideologie des Dritten Reiches, "der wahren Triebkraft Hitlers". Die Blonden und Blauäugigen wollten die "minderenRassen" , so die Wahnvorstellung, ausrotten,weil sie glaubten,dass dann von selbst paradiesische Zustände eintreten würden.
Er hat die Literatur jener Zeit analysiert, sich in den Hetzschriften gegen das "Weltjudentun" vertieft, Hitlers "Mein Kampf" studiert und ist zu der Quintessenz gelangt: "Nicht Landgewinn oder Machtfülle waren das eigentliche Ziel der Nazis, sondern die Säuberung der Welt vom sogenannten Untermenschentum."
Diese faschistische Ideologie, "die den Wert eines Menschen an dessen Augenstellung und Nasenform abliest ", spuke auch heute noch, davon ist Helnwein überzeugt,in den Köpfen vieler Menschen,selbst jüngerer,herum
Da mag er recht haben. Es erstaunt, mit welch wütender Vehemenz einige Passanten auf den Anblick der Kinder reagieren, und das in Köln, einer Stadt, in der es die Nazionalsozialisten nachweislich schwer hatten, sich zu etablieren.
Kaum war die Bilderstrasse installiert, kam es schon zu ersten Beschädigungen: Nachts wurde mit Messern in die, durch das Schminken verfremdeten, alt wirkenden grossformatigen Kinderportraits hineingestochen, ein Bild wurde gestohlen.
Kölner Museen und dir Stadtverwaltung erhalten täglich Dutzende Anrufe und befinden sich im Erklärungs- und Legitimationszwang.
Um weiteren Beschädigungen vorzubeugen, bot die Bahnpolizei dem Künstler an,fortanmit Videokameras die Bildwand zu überwachen. Helnweins Kommentar: "Eine tolle Kooperation".
Der Maler, Aktionist und Grafiker, der sich immer schon als Ankläger verstand, hat sich in letzter Zeit verstärkt der Fotografie zugewandt, "um mit einem Medium zu arbeiten, das andere Gesetze hat als die Malerei" .
Doch der Agressivität und der Provokation seiner Arbeiten bleibt er auch mit seinen Fotos treu. Sie sollen, wie alles bei Helnwein ein Affront sein, und dass er mit ihnen in den öffentlichen Raum gehen konnte, entspricht seiner beständigen Intention, nach der Kunst "für die Massen" sein müsse und nicht für ein Vernissagenpublikum. "das mit Sektflöte in der Hand vor Bildern steht und seltsame Dinge daherredet".