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Cash, Zürich – 20. Juni 1990

Cash, Zürich, 1990

MIT HACKEBEIL UND PINSEL

von Karen Bischof

Einer der bedeutendsten Gegenwartskünstler stellt in der Schweiz aus: Gottfried Helnwein
Zum 50. Jahrestag der Reichskristallnacht schuf er das Werk "Neunter November Nacht". Es zeigt 18 Kindergesichter, die 1988 vom Museum Ludwig in Köln entlang der Rheinbrücke aufgehängt waren. Ein angeblich Geisteskranker schnitt mit dem Messer die Kinderhälse durch.
Helnwein hat diese Bilder mit Pflaster "repariert", die Wunden verklebt, nicht "geheilt". So entstand ein noch ergreifenderes Dokument.

"Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Hamann auch zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir; aus dem Rücken macht er Sülze, aus dem Hintern macht er Speck."

Mit diesem Lied singt 1949 eine Grossmutter in Wien ihren Enkel in den Schlaf, der kleine Junge heisst Gottfried Helnwein. Heute ist der Mann einer der wichtigsten Gegenwartsmaler, dessen Werke bis zu 100 000 Franken wert sind. Jährlich malt er 50 Stück davon.

Das Lied vom Kindermörder Hamann hat Helnwein nicht nur durch die Kindheit begleitet. Es liess in ihm Bilder entstehen, die er später malte. Bilder von Blut und Gewalt, Angstbilder. Bilder, die fesseln und abstossen, aber die man nie vergisst: einen einbandagierten Kopf mit weit aufgerissenen Mund, hämisch lächelnde Sadisten, vernarbte Gesichter, dunkle Selbstporträts - und immer wieder Kinder. Sie alle sind Teil seiner 1980 bis 1982 entstandenen "Black Mirror Series", welche die Gemüter erregte. Hier dominieren dunkle Köpfe ohne augenfällige Gesichter, entsetzte Münder. Sie wecken Lüste, Ängste, Aggressionen, alles auf einmal.

Helnweins Bilder tun vor allem eins: sie provozieren
In dieser Schaffensperiode bis Ende der achtziger Jahre wollte Helnwein provozieren, was ihm auch gelang. Zum Beispiel mit dem Plakat für "Lulu", eine Inszenierung des Hamburger Regisseurs Peter Zadek. Das Plakat - Frau Lulu nur auf den Unterleib reduziert, davor ein stierendes Männlein - handelte ihm 1987 eine Anzeige wegen Pornographie ein. Daneben gestaltete Helnwein Titelbilder für Zeitschriften wie "Time", "Rolling Stone", "Stern", "Art", "Spiegel", "L'Espresso".

Mancher Betrachter fragt sich beim Anblick Helnweinscher Kunst: Ist dieser Mann ein Genie oder ein Fall für den Psychiater? Fragt man den Künstler selber, so lacht er und antwortet mit dem unverwechselbaren Schmelz des nicht mehr ganz breiten Wienerisch: "Weder noch. Ich habe in meinem Leben nichts anderes gemacht als gemalt. Mit dem Pinsel oder mit der Kamera." In Wien besuchte er die Hochschule für Graphik und die Kunstakademie. Mit dem Handwerkzeug im Rucksack hat er sich sodann zuerst mehr schlecht als recht durchs Leben geschlagen: "Ich habe von der Hand in den Mund gelebt. Und meine Welt sah halt so aus, wie ich sie sah."

Der Ort, wo Helnwein aufgewachsen ist, ist ein Arbeiterviertel: eng, muffig, spiessig und ein bisschen verlogen. Sein Vater, ein Postbeamter, war erzkonservativ, die Mutter hatte eine Vorliebe für Jerry-Cotton-Heftchen. Die Grossmutter sang statt Kinderlieder eben das von Hamann mit dem Beil.

Heute hat er mit seiner Frau Renate vier Kinder: Cyril, 13jährig, Mercedes, 10, Ali, 7, - nach Muhamad Ali benannt - und Wolfgang, 3. Sie gehen in Florida und Deutschland zur Schule; Wolfgang Amadeus wohnt mit den Eltern auf Burg Brohl bei Köln. Die Familie ernährt sich von Biokost aus dem eigenen Garten, den ein Gärtner bebaut.

Die Kinder sollen aufwachsen, wie Helnwein es gern selbst erlebt hätte: "Sie sollen alles erleben, was ich nicht durfte", sagt er. Am liebsten möchte er allen Kinder helfen: "Sie sind so wehrlos, rechtlos und schutzlos den Erwachsenen ausgeliefert - der Angst und der Unterdrückung."

Hamann mit dem Messer ist überall
Zum 50. Jahrestag der Reichskristallnacht schuf er das Werk "Neunter November Nacht". Es zeigt 18 Kindergesichter, die 1988 vom Museum Ludwig in Köln entlang der Rheinbrücke aufgehängt waren. Ein angeblich Geisteskranker schnitt mit dem Messer die Kinderhälse durch. Wieder Hamann.

Helnwein hat diese Bilder mit Pflaster "repariert", die Wunden verklebt, nicht "geheilt". So entstand ein noch ergreifenderes Dokument.

Gottfried Helnwein wird als bleich, schmächtig, höflich und geduldig beschrieben: mit hennarotem Haar, Stirnband, Brille, Jeans und natürlich Turnschuhen. Sein Kommentar über sein Äusseres ist ein lapidare "na ja", und die Bestätigung: "Ich bin 1,82 Meter gross, sehr schlank."

Im Atelier beschäftigt er fünf Assistenten. Nach enorm arbeitswütigen Phasen herrscht hier Chaos, dann kehrt eine klinische Ordnung ein. Der Mann lebt mit Gegensätzen, aber nicht in Gegensätzen. Er liebt Chaos wie Ordnung, heile wie böse Welt, Exzesse wie Biokost. Und weiss, was er will: "Ordnung im Leben, nie mehr Wien, einen Film drehen und Regie führen."

Bleibt dir Frage: Was macht einen echten Helnwein so teuer? Galerist und Kunstexperte Claudio Righetti vom Chalet Muri erklärt es so: "Helnwein zählt zu den Vielseitigsten. Er ist Techniker, Maler, Fotograf. Ein begnadeter Künstler." Dabei sagt Righetti, dass 100 000 Franken pro Bild sogar eher unterbewertet seien. Was sich möglicherweise ändert, denn der Künstler ist bei Amerikanern und Japanern besonders begehrt. Käufern also, die in letzter Zeit durch die Bereitschaft aufgefallen sind, absolute Spitzenpreise zu zahlen.

Bleibt nur zu hoffen, dass Helnweins Werke bleiben, was sie sind: Kunst zum Betrachten, nicht zum Einsperren in den Safe.

20.Jul.1990 Cash, Zürich Karen Bischof