Die Zeit – 9. Mai 1990
Kresnik, "Marat/Sade", 1990
TRÄNEN FÜR DIE REVOLUTION
Johann Kresnik inszeniert ein schrilles Requiem auf die DDR
Schockierend schon das Plakat, das der für Bühnenbild und Kostüme verantwortliche, als Maler im photorealistischen Stil bekanntgewordene Wiener Gottfried Helnwein entworfen hat: das ins Grobe vergrösserte Presse-Photo des in einer Blutlache liegenden Kopfes von Oskar Lafontaine. Rot eingeblendet: 'Das Attentat".
Ja, geht es im Stück von Peter Weiss nicht um das Attentat, das die junge Charlotte Corday am 13. Juli 1793 auf den jakobinischen Führer der Revolution, Marat verübt hat? Und hat sie sich nicht kurz vor dem Anschlag "ein Küchenmesser" gekauft, wie die Frau des Jahres 1990?
Die assoziationswütigen Österreicher Helnwein und Kresnik haben schon für ihren "Macbeth" (Heidelberg 1988) den machtbesessenen Politiker Shakespeares in einer Badewanne sterben lassen - und dafür mit dem Presse-Photo des toten Uwe Barschel im Genfer Hotel auf dem Plakat geworben.
Woran denken Helnwein/Kresnik nach dem 9. November 1989, wenn sie bei Peter Weiss solche Sätze lesen?
"Mit der Ruhelosigkeit der Gedanken / lässt sich keine Mauer durchbrechen. / Wir sind die Erfinder der Revolution / doch wir können noch nicht damit umgehen./ Siehst du den Irrsinn dieser Vaterlandsliebe.../ Ich pfeife auf die Nation / so wie ich auf alle anderen Nationen pfeife../ Ich pfeife auf diese Bewegungen von Massen / die im Kreise laufen..."
Schräg ist alles an Helnweins Bühne: ein gekipptes, ein irres Haus, ein schiefes Irrenhaus als Raum unseres Lebens. Die Bühne ist, von rechts nach links, im Winkel von 26 Grad geneigt. Auf dieser Rutschbahn, die von Krankenpflegern gewässert wird, wenn sie mit Feuerwehrschläuchen die erhitzten Kranken kühlen, findet Leben statt: man robbt nach oben, schlittert nach unten. Auch die beiden klinikweissen Wände dieses Saals stehen nicht im rechten Winkel. Sie knicken weg mit je drei blinden Fenstern übereinander.
Alles wild durcheinander. Neunzig pausenlose Minuten einer Revue. Und doch ist hinter allem Lärm der Ton einer großen Klage zu hören. Lauter Grimassen, um Tränen zu verbergen.
Im Kleinen Haus des Staatstheaters Stuttgart inszeniert der Erfinder des "Choreographischen Theaters", der Österreicher Johann Kresnik, das Drama in zwei Akten von Peter Weiss aus dem Jahr 1963. "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dergestellt durch die Schauspielgruppe der Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade," als Spektakel. Das Lehrspiel von der Revolution, das andere Regisseure in drei oder vier Stunden enfalten, aus dem Peter Brook erst eine große Inszenierung, dann einen abendfüllenden Film gemacht hat, rast in Stuttgart in anderthalb Stunden vorbei - und dabei hat Kresnik noch Zeit für seinen Kurzfilm und für Gesangseinlangen von gewollter Geschmacklosigkeit.
Schockierend schon das Plakat, das der für Bühnenbild und Kostüme verantwortliche, als Maler im photorealistischen Stil bekannt gewordene Wiener Gottfried Helnwein entworfen hat: das ins Grobe vergrößerte Presse-Photo des in einer Blutlache liegende Kopfes von Oskar Lafontaine. Rot eingeblendet die Schreck-Meldung: "Das Attentat".
Ja, geht es im Stück von Peter Weiss nicht um das Attentat, das die junge Charlotte Corday am 13. Juli 1793 auf den jakobinischen Führer der Revolution, Marat, verübt hat? Und hat sie sich nicht kurz vor dem Anschlag "ein Küchenmesse" gekauft, wie die Frau des Jahres 1990? Die assoziationswütigen Österreicher Helnwein und Kresnik haben schon für ihren "Macbeth" (Heidelberg, 1988) den machtbesessenen Politiker Shakespeares in einer Badewanne sterben lassen - und dafür mit dem Presse-Photo des toten Uwe Barschel im Genfer Hotel auf dem Plakat geworden.
Woran denken Helnwein/Kresnik, nach dem 9. November 1989, wenn sie bei Peter Weiss solche Sätze lesen? "Mit der Ruhlosigkeit der Gedanken / läßt sich keine Mauer durchbrechen. / Wir sind die Erfinder der Revolution / doch wir können noch nicht damit umgehn. / Siehst du den Irsinn dieser Vaterlandsliebe . . . / Ich pfeife auf diese Nation / so wie ich auf alle anderen Nationen pfeife . . . / Ich pfeife auf diese Bewegung von Massen / die im Kreis laufen . . . / Es heißt jetzt / die Arbeiter hätten bald höhere Löhne zu erwarten . . . / weil mit einer gesteigerten Produktion gerechnet wird / und folglich mit größerem Umsatz . . . / Laßt euch nicht täuschen / wenn unsere Revolution erstickt worden ist ' und es euch scheint / euer Wohlstand stände vor der Tür . . . / Unser Land ist in Gefahr . . . / Schieber, die uns abwürdigen wollen / und sich schon um die Verteilung der Beute streiten."
Klingen diese Knittelverse nicht wie aktuelle Kommentare zur Lage der DDR vor der Einigung? Wie in seinem neuen Stück für das Bremer Tanztheater, "Ulrike Meinhof", das in diesem Tagen beim Berliner Theatertreffen zu sehen ist, geht es Kresnik, bei aller Gewalttätigkeit auf der Bühne, weniger um Revolution als um Trauer. Kein Optimist des Fortschritts sitzt am Regiepult, sondern ein Pessimist, der auf all die verpaßten Möglichkeiten schaut.
Da Kresnik ein vulkanisches Temperament ist, vergräbt er sich nicht in elegische Trübsal, sondern inszeniert seinen Schmerz als Nachruf auf die verspielten Chancen eines menschlichen, eines demokratischen Sozialismus in Europa, als Requiem auf die DDR, bis hin zu den aus der schwarzrotgoldenen Fahne mit dem Mord-Messer geschnittenen Symbolen von Hammer und Zirkel, bis hin zu der höhnisch krakeelten DDR-Hymne des Dichters Johannes R. Becher: "Auferstanden aus Ruinen."
Kresnik ist ein Wütender und ein Leidender: Er kann die Toten nicht vergessen, die auf dem Weg in eine besere Welt liegen. Deshalb beginnt die Inszenierung in Stuttgart - nach der Beschwörung der Ulrike Meinhof in Bremen (ZEIT vom 23.2.1990) - mit einer Erinnerung an die Stammheimer Toten vom 18. Oktober 1977: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe in einem kurzen Film.
Die "Helden" einer neuen Generation in restaurativer Zeit, die Tennis-Stars "Boris" und "Steffi", werden von Familie, Freunden, Managern in einem Nobelhotel abgeholt. Nach Küßchen, Küßchen fährt die Gesellschaft in den Luxus-Limousinen, die in Stuttgart gebaut werden, zum "Frühlingsfest" auf dem Canstatter Wasen. "Boris" pinkelt in einen Gully am Rasenrand, ehe die Party auf dem Friedhof weitergeht. An der Grabplatte der Toten werden drei Kerzen entzündet - und ehe der höhnische Kurzfilm endet, fliegt eine rote Nelke auf das Grab,
Kresnik travestiert den Film, mit dem Claus Peymann 1975, da lebten die drei in Stammheim noch, seine Inszenierung des Revolutions-Stücks von Albert Camus "Die Gerechten", beendet hat: Eine Straßenbahn fuhr zu Mozert-Musik aus dem Talkessel hinauf zur Festung mit dem Hochsicherheitstrakt. Damals ein Skandal, heute ein brutaler Witz. Immerhin haben wir die jugendlichen Hauptdarsteller kennengelernt, die ihren Vorbildern mit dem Tennis-Schläger erstaunlich ähneln: Yvonne Devrient als Charlotte Corday, die Marat nicht mit dem Dolch umbringt, den sie neben dem Blumenstrauß hält, sondern zwischen bloßen Schenkeln in einem mörderischen Liebesakt; Ben Becker als erotomaner Duperret, der vom Revoluzzertum genug hat und Pfeile mit schwarzen Wimpeln in die schräge Bühnenwand schießt.
Schräg ist alles an Helnweins Bühne: ein gekipptes, ein irres Haus, ein schiefes Irrenhaus als Raum unseres Lebens. Die Bühne ist, von rechts nach links, im Winkel von 26 Grad geneigt. Aud dieser Rutschbahn, die von Krankenpflegern gewässert wird, wenn sie mit Feuerschläuchen die erhitzten Kranken kühlen, findet Leben statt: Man robbt nach oben, schlittert nach untern. Auch die beiden klinikweißen Wände dieses Saales stehen nicht im rechten Winkel. Sie knicken weg mit ihren je drei blinden Fenstern übereinander.
Vor dieser Bühnenschräge ein schmaler Steg aus rotem Samt. Dort fläzt sich im rotem Rollstuhl, halbnackt, der müde Spielmeister, der aus politischen Gründen inhaftierte Marquis de Sade, der während seiner Jahre in Charenton wirklich Theaterstücke geschrieben und einstudiert hat, zum schaudernden Vergnügen des Pariser Publikums. Claus Boysen, ein in der Gefangenschaft feist gewordener, zynischer Melancholiker, hüllt den aufgeschwemmten Leib in einen mit schweren Silberstücken behängten, roten Bademantel. Bleich geschminkt, den grauen Haar-Rest in ein trauriges Krönchen auf kahlem Schädel gepreßt, bewegt sich Boysen im rotem Lendenschurz mit der trägen Leichtigkeit der Fleischkolosse, die wir als japanische Sumo-Ringer kennen. "Die Gefängnisse des Innern / sind schlimmer als die tiefsten steinernen Verliese . . . / Was wäre schon diese Revolution / ohne eine allgemeine Kopulation" - solche Sätze spricht dieser Marat ohne Emotion: Er teilt ihnen nichts mehr mit von Trauer oder Verzweiflung, die ihn zu dieser Einsicht totaler Verlassenheit genötigt haben.
So kommt die große geistige Auseinandersetzung mit dem Verteidiger revolutionärer Gewalt, mit Marat, nie in Gang. Peter Rühring, ein nicht nur haut-, sondern vor allem kopfkranker Intellektueller mit dem brennenden Blick des fantastischen Besserwissers, könnte ein streitbarer Gegner sein. Immer wieder rafft er sich aus der Zinkwanne empor, in der die juckende Haut im Heilwasser weicht. Dann steht ein gekrümmter Schmerzensmann vor uns, dem die Haut in Fetzen vom Leib hängt. Aus dem geschundenen Leib dringen die Fanfaren-Sätze, mit denen er das Credo des Individualisten de Sade ("Ich glaube nur an mich selbst") bekämpft: "Ich glaube nur an sie Sache . . . / Gegen das Schweigen der Natur / stelle ich eine Tätigkeit / In der großen Gleichgültigkeit / erfinde ich einen Sinn / Es gibt für uns nur ein Niederreißen bis zum Grunde / so schreklich dies auch denen erscheint / die in ihrer satten Zufriedenheit sitzen / und sich in den Schutzmantel ihrer Moral hüllen."
Verrent sich eine Inszenierung, die aus dem Stück diesen - einzigen - dramatischen Kern bricht und die Schlacht der Worte vermeidet, nicht in den schieren Aktionismus eines Bewegungschores von dreizehn Spielern? Und war dies nicht zu fürchten bei dem von Tanz und Rhythmik seines "Choreographen Theaters" herkommenden Tänzer-Choreographen als Regiseur? Hat Kresnik im Sommer 1989 in Stuttgart nicht auch Alfred Jarrys Farce vom "König Ubu" der Neigung geopfert, "in Bildern zu denken"?
Jetzt hängt der über den politischen Konflikten schwebende, ehemalige Priester und radikale Sozialist Roux (Werner Prinz) - auf einer Schaukel über der Szene und verkündet, kräftig in die umgehängte Militär-Trompete blasend, seinen Aufruf zum Volksaufruhr: "Greift zu den Waffen / kämpft um euer Recht."
Andere "Bilder" sind befremdlich schön in ihrer Eindringlichkeit - oder Rätselhaftigkeit. Plötzlich stecken lauter Mordmesser mit schwarzen Griff in den weißen Holz-Stühlen. Die Tänzer-Darsteller wickeln sich in das schwarzrotgoldene Fahnen-Tuch, das sie gleich drauf als kleine, nationalistische Embleme wie das Brett vor dem Kopf kleben haben. Ist von Profit die Rede, winken alle mit Werbe-Taschentüchern, von denen der Stern der Autofirma grüßt, in deren Karossen sich Politiker, nicht nur in Deutschland, besonders gern chauffieren lassen. So verlängert Kresnik die Revolutions-Revue aus dem alten Frankreich in usere Tage - und ertränkt seinen aufklärerischen Elan in wilden oder platten Bildern.
Die "Vier Sänger", die sich Peter Weiss als "Halb Volkstypen, halb Possenreißer" wünscht, sind bei Anke Hartwig, Catrin Striebeck, Hans Fleischmann, Oliver Reinhard Karikaturen von Schlager-Stars. In rosa Kleidern parodieren sie Nena oder Karel Gott, Udo Jürgens oder Maria Hellwig. Die Zehn-Mann-Band in der Intendanten-Loge musiziert jedoch in den blauweißgestreiften Sträfling-Kleidern von KZ-Häftlingen. So geht alles wild durcheinander. Zu rasch wird jeder Assoziation eine bildliche oder Szenische Entsprechung gesucht.
Zu völliger Beliebigkeit verkommt die Aufführung, wenn "das Volk" nicht die Texte singt, die den Kampf zwischen Marat und de Sade begleiten und kommentieren, sondern den Schwachsinn neudeutschen Liedgutes grölt, von den "99 Luftballons" bis zu "Mamma, Mamma, Chiquita Banana", von "Schaffe, schaffe, Häusle baue" bis zu "Zicke, zacke" und "Sieg Heil!"
Nicht nur skeptisch, sondern angewidert blikken Helnwein & Kresnik auf das von machtgierigen Politikern verführbare Volk: Eine als Fan-Club und Nationaltrikot gekleidete Fußballmannschaft stürmt die Bühne, wo auf vierzehn tragbaren Fernseh-Geräten die Ermordung Marats als Medien-Ereignis zu besichtigen ist, und berauscht sich am eigenen Geschrei: "Olé! Wir sind das Volk! Olé!"
Mehr also eine wild gestikulierende Revue (die das Stück von Peter Weiss als Magazin für Bilder vom Massenwahn nüzt) als eine die Szenenfolge gliedernde oder sich mit dem Drama auseinandersetzende Inszenierung. Und doch ein neuer Beweis für Kresniks Leidenschaft und Phantasie.
www.helnwein.de/werke/theater/tafel_5.html
Mehr über Kresnik und Helnwein:
http://gottfriedhelnwein.homestead.com/kresnik.html