Wetterauer Zeitung – 5. Juni 1992
Gottfried Helnwein mit mehreren typischen Werkgruppen in der Pfalzgalerie Kaiserslautern
Vom exakten Realismus zur visionären Formauflösung
Wer die Stufen zur Pfalzgalerie heraufsteigt, kann ein böses Omen entdecken. An den Eingangssäulen lassen sich die Körner des Sandsteins bereits mit den Fingern abreiben. Der Verfall ist vorprogrammiert. Doch Einsturzgefahr besteht nicht, auch wenn ein gestandener Provoketeur eine Welt der Idylle zusarnmenstürzen läßt.
Die Ausstellung von Gottfried Helnwein umfaßt mehrere typische Werkgruppen, ältere Arbeiten, neuere und bislang noch nicht gezeigte. Sie verdeutlichen, daß die Entwicklung des gebürtigen Wieners von ständigen Experimenten bestimmt gewesen ist. Er schuf Porträtfotos, Selbstbildnisse und benutzte dabei unterschiedliche Fotopapiere. Er zeichnete mit Feder, Tusche, Bleistiften, ohne sich einer Stilrichtung zu verpflichten. Seine Ausdrucksformen reichen von einem exakten Realismus bis zur visionären Formauflösung.
Als Rebell wider eine oberflächliche und selbstzufriedene Gesellschaft, die das keep smiling als elftes Gebot verinnerlicht hat, um ihre Wolfsmoral zu verbergen, verschreibt er sich einer Schattenwelt, in der Leid und Schmerzen das Schicksal bestimmen.
Mit Aktionen und entlarvenden Bildern provozierte der 1948 in Wien geborene Künstler immer wieder die Öffentlichkeit. Das begann 1970 mit dem Alarrnruf "Die Akademie brennt". Er empörte sich gegen die Professoren der Wiener Akademie,
weil sie sich weigerten, Studenten Mitsprache bei Aufnahmeprüfungen einzuräumen.
Ein Cover für ein Magazin führte zu Kündigungen von Abonnements. 1979 stellte Helnwein einen
österreichischen Euthanasiearzt an den Pranger, der Hunderte von behinderten Kindern getötet hatte. Als Helnwein den Rennfahrer Niki Lauda als Idol entdeckte, schmollte die vornehme Zunft der Kritiker. 1983 protestierte er recht wirkungsvoll gegen die Zerstörung der letzten Auenwälder
durch ein Elektrizitätswerk, und im Rundfunk rief er die Kinder auf, am nächsten Tag nicht in die Schule zu gehen.
Überempfindliche, kleinkarierte verhinderte k. u. k.-Hofräte entdeckte Helnwein auch in deutschen Landen.'Sein geniales Plakat für Frank Wedekinds "Lulu" ih Hamburg weckte Proteste von Politikern und Bürgern, die Strafantrag gegen ihn stellten. Und in München wurde sein Vertrag für Bühnenbilder und Kostüme gekündigt, mit denen Heinwein Carl Orffs "Carmina Burana" aktualisieren wollte.
In Kaiserslautern erinnert das "Sonntagskind" an seine Anfänge. Es handelt sich um eine irritierende, satirische Bildgeschichte. Ein Mädchen mit Blindenarmbinde und herausgestreckter Zunge posiert vor einem Tante-Emma-Laden. Die Aufkleber von Markenartikeln wirken wie Reliquien unserer Konsumwelt. In den Bildern verbundener und verletzter Kinder hat Helnwein frühe Kindheitserinnerungen verarbeitet. Sie korrespondieren mit mehreren Selbstbildnissen.
Einige großformatigen Ölgemälde lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es sind Warnungen vor der Vergötzung des Kriegsgottes Mars, ob es sich nun um ein Kampfflugzeug oder
die Begeisterung der Massen bei einem Flugtag handelt, der schrecklich endete: "Landschaft" lautet der Titel eines Feuerballs, mit dem Helnwein an die Ereignisse von Ramstein erinnert. Jener Politiker, der sein Ehrenwort gab, ist auf dem dunklen Blau kaum noch zu erkennen. Der Betrachter soll
genau, hinsehen. In einigen Bildern nimmt Helnwein Abschied von der Wirklichkeit, so in "Modern Sieep" mit einer schwebenden Figur und beim "verbrannten Engel" und "Gott in Panik": ein in Weiß ummantelter Kopf schwebt im Dunkel.
Als Gegengewicht zu Gerhard Richters Fotowand mit 48 Köpfen berührnter Manner, schuf Helnwein seine Wand von 48 Frauenköpfen. Meist handelt es sich um bekannte Sängerinnen, Schriftstellerinnen und Vertreterinnen der Frauenbewegung. Aber wer kennt die Mathematikerin Mileva Einstein, die an den Arbeiten ihres Mannes Albert Einstein einen beachtlichen Anteil hatte? Auch die erste weibliche Atlantik-Überfliegerin Amelia Earhart zählt zu den großen Unbekannten der Fotowand. Erfreulich, auch Christa Wolf zu entdecken, die Eiferer des Feuilletons gern auf den Scheiterhaufen der deutschen Einheit geschleppt hätten.
Helnweins Tick für Comics zeigt sich darin, daß er auch die deutsche Übersetzerin Erika Fuchs verewigte.
Eine Parallele zu Francis Bacon bietet sich an.
Der schreiende Papst des kürzlich verstorbenen Iren dürfte Helnwein inspiriert haben. Beide hielt es nicht in der Heimat, Bacon verließ Dublin, Helnwein Wien. Eine innere Beziehung zum Surrealismus ist bei beiden spürbar, auch wenn sie sich
dieser Richtung stilistisch nicht unterordneten.
Was für Bacon die Schlachtbank bedeutete, entspricht bei Helnwein den Opfern einer nie gezeigten Folterbank. Die Klage über die grausame menschliche Natur zeigt sich bei Bacon und Helnwein in einem schockierendem Realismus. Gottfried Helnwein verzichtet allerdings weitgehend auf die Bewegungsstudien Bacons. Der Schmerz läßt seine Figuren erstarren. Über den Bildern des unangepaßten Wieners könnte das Zitat von Francis Bacon hängen: "Der Tod begleitet uns immer"
(bis 5. Juli)