Westfälischer Anzeiger – 9. November 1989
Essener Museum Folkwang, 1989
"HÖLLEN-BRUEGHEL" DER POPULÄRKULTUR
Essen/Hamm (Eig.Ber.). Im Kreis der Wiener Aktionskünstler mit ihrem Hang zu vielgestaltiger Selbstentblößung begann die Kunstkarriere des 1948 in Wien geborenen Österreichers Gottfried Helnwein, der zu den Figuren des Kunstbetriebs zählt, an denen sich die Geister scheiden. Eine konzentrierte Retrospektive im Essener Museum Folkwang mit über 50 Pastellen, Aquarellen und Zeichnungen wirft Schlaglichte auf eine bereits 20 Jahre dauernde Künstlerkarriere, die von Schockerlebnissen ebenso begleitet ist wie von einem wohl beispiellosen kommerziellen Erfolg.
Im Zentrum der bis zum 3. Dezember geöffneten Ausstellung stehen Hochformate, deren figurativer Anspruch gerade noch eingelöst werden kann. Immer wieder hat dieser detailbesessene Hyperrealist, der auch durch Rudolf Hausner und den Phantastischen Realismus der Wiener Schule beeinflußt worden ist, auf seine Suche nach Reduktion, nach dem für die dargestellte Sache unbedingt Notwendigen hingewiesen.
Geradlinig verfolgte der mittlerweile zum Höllen-Breughel der Populärkultur aufgestiegene Künstler diesen Weg sicherlich nicht. Wie bereits in seinen frühen Aktionen mit bandagierten und künstlerisch 'verletzten' Kindern, die immer wieder als Symbole einer durch Erwachsene vergewaltigten Phantasiewelt geradezu kraftvoll verkrüppelt im Werk auftauchen, ist auch in den jüngsten Arbeiten das Thema "Kind" präsent.
Jetzt offenbart sich ein nur noch gespenstisch in Farbstift und Pastell an gedeuteter Pinocchio vor tiefdunklem Hintergrund: Das hölzerne Märchenwesen als der positiv naive Typus, der durch entsprechenden Schliff erwachsen werden darf.
Auch in der jüngsten Werkphase wird die Fotografie zum Bindegliedes Künstlers zwischen sich und der Wirklichkeit. Helnwein bezeichnet sich als Kind des Medienzeitalters, und nichts besitzt für ihn größere Intensität als das, was er reproduziert sieht: - Zeitschriften, Fotografien, Fernsehen als künstlerischer Ausgangspunkt und intensiv wirkende Inspirationsquelle. Dieses Bekenntnis zum Kommunikationszeitalter, zu den Bildformen des Massenbetriebs, brachten Helnwein Anfang der achtziger Jahre den großen Erfolg. Waren es kurz zuvor noch fein gestrichelte düstere Phantasien, die in der schon klassischen Österreich-Tradition Schielens und Kubins standen, folgte jetzt die porentief realistische plakative Aufbereitung kollektiver Ängste. Fotos vom schmerzverzerrten eigenen bandagierten Gesicht wurden aquarellistisch verfremdet, mit medizinischem Werkzeug bestückt. Die schneidend sichtbare Körperkälte hat sich in bewußt vermarkteten Poster-Reproduktionen niedergeschlagen: Verzerrte Gesichter, umgeben von, atomarer Bedrohung, Frauenfeindlichkeit, faschistoider Dumpfheit und Drangsalierung. Andererseits wurden die trivialen Mythen und Idole hyper-fotorealistisch aufbereitet - synthetisch aufgeblähte Wesen des Unterhaltungskosmos: Superman, Mick Jagger, James Dean, Peter Alexander oder Andy Warhol.
Im aktuellen Werk ist davon eine bleiche Schädel-Silhouette übriggeblieben. Den gestalterischen Einstieg lieferte hier ein Foto von der verkohlten Leiche des NS-Propagandisten Goebbels, betitelt auf einer Fotografie des amerikanischen Sensationsreporters Weegee ("Modern - Sleep"). Neben Polizeifotos von mißhandelten Kindern dient im Falle eines mehrteiligen Artaud-Zyklus dokumentarisches Fotomaterial als Inspirationsquelle. In "Artaud als Marat" erscheint der französische Schauspieler und Dramatiker in Korrespondenz zum berühmten Gemälde des Empire-Künstlers David. Der von Helnwein schemenhaft-expressiv angedeutete tote Revolutionär dient dem DDR-Dramatiker Heiner Müller und dem Choreographen Johann Kresnik derzeit als Grundlage für ein gemeinsam geplantes Artaud-Projekt.
09.Nov.1989 Westfälischer Anzeiger Roland Groß